Süddeutsche Zeitung

JVA Stadelheim:Knast als Talentpool für Unternehmer

Auch kriminelle Energie ist eine Energie, die man vielleicht nur etwas umleiten muss. Die JVA Stadelheim hat deshalb einen deutschlandweit einmaligen Versuch gestartet.

Von Kathrin Hollmer

Das Problem ist immer dasselbe: Geld. Wer ein Unternehmen gründen will, braucht Kapital. Die meisten leihen es sich bei der Bank. Den 18 angehenden Unternehmensgründern in diesem Seminarraum mit PVC-Boden und hellgelben Wänden jedoch leiht niemand einfach so Geld. "Das Problem ist", sagt Martin langsam und stockt, bevor er den Satz zu Ende spricht, "dass wir Betrüger sind."

Martin, Mitte 50, hat eben seine Idee vorgestellt: ein Taxiunternehmen mit Elektroautos. Eigentlich heißt Martin anders, wie alle Kursteilnehmer, die in diesem Text vorkommen. Sie alle sind Häftlinge in der Justizvollzugsanstalt München Stadelheim.

Der Raum wirkt wie ein gewöhnlicher Seminarraum, mit Flipcharts und Tischen in U-Form. Doch vor den Fenstern sind Gitter angebracht, draußen steht eine sechs Meter hohe Mauer mit Stacheldraht, und alle 18 Teilnehmer tragen dunkelblaue Hosen, graue oder blaue Hemden oder Sweatshirts - die bayerische Gefangenenkleidung. Morgens, in den Pausen und am Ende des Tages führen Beamte sie durch mehrere Sicherheitsschleusen.

Der Knast als Talentpool

Die Gefangenen sind Teil eines in Deutschland einzigartigen Programms: Die gemeinnützige GmbH Leonhard aus Gräfelfing bei München bildet sie während der Haft zu Unternehmern aus. 2010 haben Maren Jopen, 37, und ihr Vater Bernward, 72, das Unternehmen gegründet. Leonhard, nach dem Schutzpatron der Gefangenen. Für die 15 bis 18 Kursplätze, die zweimal im Jahr angeboten werden, können sich männliche Häftlinge aus den 36 Haftanstalten in Bayern bewerben. "Besonders hat uns fasziniert, wie viele Talente im Gefängnis schlummern", sagt Maren Jopen. "Und zu sehen, mit welcher Zuversicht die Häftlinge in die Zukunft blicken, obwohl sie an so einem deprimierenden Ort wie einem Gefängnis sind."

Der Knast als Talentpool? Klingt seltsam. Aber nur auf den ersten Blick. Denn: Auch kriminelle Energie ist zunächst mal Energie. Die man vielleicht einfach nur umleiten muss. Auch Kriminelle haben Fähigkeiten, mitunter welche, die dem Durchschnittsmenschen manchmal fehlen: Initiative, Durchsetzungsvermögen, Risikobereitschaft. Dieser Gedanke lässt die Jopens nicht mehr los. In ihren Kursen sitzen heute viele Teilnehmer, die in ihrem Leben etwas erreichen wollten. "Nur haben sie das auf illegale Weise versucht", sagt Maren Jopen. "Wer erfolgreich Drogen verkauft, kennt sich aus mit Akquise, Organisation und Personalplanung", sagt sie.

Marco, 28, ist seit 2011 eingesperrt. Körperverletzung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte. Nachdem ihn seine Freundin verlassen und den gemeinsamen Sohn mitgenommen hatte, verletzte er im Drogenrausch einen Menschen und griff einen Polizisten an. Davor hatte er immer wieder Probleme mit Alkohol und Drogen, mit 17 machte er die erste Therapie.

"Meine Freundin sagt immer, ich habe ziemlich viel im Kopf, aber nie was daraus gemacht", sagt Marco, dunkle Locken, dunkle Augen, das Hemd spannt an den Oberarmen. Er hat nie eine Ausbildung gemacht, schlug sich mit Aushilfsjobs als Veranstaltungstechniker durch. "Und dann haben die hier gesagt, dass ich was aus meinem Leben machen kann, obwohl vorher nur Blödsinn passiert ist."

Wie Marco sind viele im Kurs noch nie gefragt worden, was sie können und aus sich machen wollen, und haben sich das auch nie selbst gefragt. Einen Businessplan zu erstellen, erfordert aber genau das. Die Teilnehmer sind Anfang 20 bis Mitte 60, manche haben knapp die Hauptschule geschafft, andere haben studiert oder früher ein Unternehmen geleitet.

Die meisten sitzen wegen Drogen-, Betrugs- und Gewaltdelikten im Gefängnis. Fast alle hören zu, stellen einander Fragen. Niemand unterbricht den anderen. "Gewaltfreie Kommunikation ist eines der ersten und wichtigsten Dinge, die die Teilnehmer hier lernen", sagt Bernhard Eggerbauer, Unternehmercoach und einer der Dozenten im Leonhard-Programm. Die Häftlinge lernen, über Gefühle, Bedürfnisse und Ängste zu sprechen. Für viele ist das eine völlig neue Erfahrung.

Auf der Suche nach einer Geschäftsidee fiel Marco ein, wie er als Jugendlicher in der Werkstatt eines Suchthilfenetzwerks mithalf, Spielzeug für Menschen mit einer Behinderung herzustellen, und wie sehr ihn das begeistert hat. "Ich hatte mir davor nie Gedanken gemacht, wie blinde Menschen 'Mensch ärgere dich nicht' spielen."

Jeder zehnte wird rückfällig

Eine Aufgabe im Kurs ist, die Geschäftsidee mit Legosteinen nachzubauen. Marco will eine Werkstatt für Holzspielzeug eröffnen, in der Menschen mit und ohne Behinderung arbeiten. Einen großen Torbogen hat er über die graue Lego-Bauplatte gesteckt, darunter fährt ein Männchen im Rollstuhl, Kabel und Werkzeug liegen herum. "Das Tor ist extra groß, damit man gleich sieht, dass jeder reinkommen kann, egal ob körperlich oder geistig behindert, ob Ex-Sträfling oder nicht", sagt Marco.

Eine Gruppe Häftlinge, die mit Legosteinen spielt - ein seltsames Bild. Aber die Teilnehmer nehmen die Aufgabe ernst. Noch dürfen sie träumen, erst in ein paar Wochen kommt die Frage, wie das Ganze eigentlich Geld einbringt. Auf einem großen Plakat hat jeder Wörter notiert, die beschreiben, wie er sich fühlt: "Müde", steht da, "einsam", "verlassen", "tot", aber auch "lebendig" und "geborgen".

60 Prozent der Absolventen finden innerhalb von 25 Tagen nach der Entlassung eine Beschäftigung. Knapp ein Drittel der Absolventen hat bisher eigene Unternehmen gegründet - darunter ein Callcenter, ein Reinigungsunternehmen, einen Smartphone-Reparatur-Service und zwei mobile Tattoo-Studios. Nur jeder zehnte wird rückfällig. Das liegt auch an der Betreuung nach der Entlassung. Mentoren begleiten die Teilnehmer im Alltag.

Das klingt alles ziemlich gut. So gut, dass man sich fragt, warum es nicht in jedem Gefängnis so ein Programm gibt. Für die Kurse bewerbe sich nur ein sehr kleiner Teil von den insgesamt 11 500 Gefangenen in Bayern, sagt Michael Stumpf, Leiter der JVA München. "Nur wenige Gefangene sind qualifiziert genug für ein so anspruchsvolles Programm, für das man auch kreativ sein muss und eine offene Persönlichkeit braucht."

Dieser Text stammt von jetzt, der jungen Webseite der SZ, und ist Teil der Serie "Reset - Geschichten über Neuanfänge". Unter www.jetzt.de finden Sie die vollständige Version und täglich junge Themen aus den Bereichen Gesellschaft, Leben, Uni, Pop- und Netzkultur.

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Quelle:
SZ vom 27.01.2016/koei
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