Es beginnt mit einem Tischtennisspiel auf dem Münchner Königsplatz. Wind weht, weiße Flocken rieseln, Farid hat blaue Lippen und ein viel zu dünnes Jäckchen an. Doch als Tom ihn fragt, ob ihm zu kalt sei, wehrt er nur ab: „Quatsch.“ Und spielt mit Feuereifer weiter.
Es ist ein Tischtennis-Match unter Freunden der besonderen Art, das wird in Christian Mitzenmachers Roman „Knallkrebse“ schnell klar. Einige Zeit zuvor haben sich die beiden über eine Patenschaft kennengelernt: ein 16-jähriger Geflüchteter aus Afghanistan und ein fast zehn Jahre älterer Physikdoktorand. Der einerseits auf sein soziales Engagement stolz ist, andererseits weiß, dass sich das auch gut im Lebenslauf macht: „In München ist Leben vor allem die erste Hälfte von Lebenslauf.“
In seinem so reflektierten wie warmherzigen Debütroman erzählt Christian Mitzenmacher, einstiger Stipendiat der Bayerischen Akademie des Schreibens, die Geschichte einer immer tieferen Freundschaft. Bei allen aufscheinenden Problemen rund um das Thema Flucht kommt dabei auch einige jugendliche Leichtigkeit durch. Und so ist dieser Roman in all seinen Schattierungen ein wichtiges literarisches Zeugnis der „Wir schaffen das“-Aufbruchsära, die heute so nah und fern zugleich erscheint.

Mitzenmacher, der selbst als Mathematiker an der TU München geforscht hat und inzwischen in Berlin lebt, wird sein Buch beim Literaturfestival Wortspiele vorstellen, bei dem an drei Abenden insgesamt 18 deutsche und österreichische Autorinnen und Autoren im Münchner Muffatwerk lesen. Es ist nicht der einzige Roman, der Spuren von Flucht enthält; Aria Aber zum Beispiel verbindet in ihrem Roman „Good Girl“ die Themen Clubkultur und Einwanderung: Ihre junge Protagonistin will nichts als raus aus einem Berliner Plattenbau, in dem nur Geflüchtete leben.
Von Fluchterfahrungen und Krieg oder Gewalt geprägt sind auch zahlreiche Familiengeschichten, die bei diesem 25. Festival zu hören sein werden. Welche Spuren lassen sich über Generationen hinweg finden? Wie sehr werden traumatische Erfahrungen insbesondere unter Frauen weitergegeben? Davon erzählt zum Beispiel Rabea Edel in „Portrait meiner Mutter mit Geistern“; Paulina Czienskowski („Dem Mond geht es gut“) und Bettina Wilpert („Die bärtige Frau“) denken über Mutterschaft und Körper nach. Katharina Köller dagegen lässt ihre Protagonistin – auf der Flucht vor einer dysfunktionalen Familie und ehelicher Gewalt – im schön schillernden Selbstermächtigungs-Roman „Wild wuchern“ aus der Zivilisation in die Natur und Tierwelt einer Tiroler Alm flüchten.
Immer wieder geht es in den familiären Spurensuchen dabei nicht nur über mehrere Generationen, sondern auch verschiedene Länder hinweg: bei Ricarda Messner zum Beispiel, die in ihrem Roman „Wo der Name wohnt“ gleich vier Generationen vom Lettland der Siebzigerjahre bis nach Deutschland begleitet. Und bei Pierre Jarawan und Paola Lopez, deren in beiden Fällen wissenschaftlich unterfütterte Romane auch noch eint, dass sie streckenweise ausgerechnet in Beirut spielen.

Pierre Jarawan, um mit dem Münchner Schriftsteller zu beginnen, hat für „Frau im Mond“ beeindruckend intensiv recherchiert und überschreitet darin nicht nur Ländergrenzen, sondern überfliegt gleich Kontinente. Er stellt seinen neuen Roman (der erst Anfang April erscheint und am 29. April im Literaturhaus ausführlicher präsentiert wird) bei den Wortspielen vorab vor. Wie wichtig Jarawan das Heimatland seines Vaters ist, hat er schon in seinen Romanen „Am Ende bleiben die Zedern“ und „Ein Lied für die Vermissten“ deutlich gemacht. Diesmal führen die Spuren der Emigration vom Libanon nach Kanada.
Dort lässt der Großvater der Ich-Erzählerin Lilit beim Küchendienst in einem Seniorenwohnheim in Montreal immer wieder Backpulver und Essig mitgehen – bis er genug beisammen hat, um eine Art Rakete zu basteln, nach deren Zündung er mit sofortiger Wirkung aus dem Altersheim fliegt. Dabei wollte er sich nur daran erinnern, wie er in den Sechzigerjahren einmal wirklich große Raketen baute, damals, als er als Mitgründer der Lebanese Rocket Society von den Sternen träumte.
Jarawan erzählt über mehrere Generationen und Zeitebenen hinweg von Träumen und Traumata, die im Fall der Großmutter bis zum Völkermord an den Armeniern zurückreichen. Wie man damit umgeht? „Wir überwinden Verluste, indem wir uns erinnern. So halten wir die, die wir verloren haben, am Leben.“ Dieses Erinnern im Erzählen, insbesondere an filmischen Techniken geschult, thematisiert Jarawan im Laufe von sehr vielen Neben- und Haupthandlungen immer wieder.
Libanon als Pulverfass mit unendlich vielen Problemen, das macht das Buch deutlich, sehen Jarawans Figuren dabei nicht als einzigartigen Fall, sondern vielmehr als „Mikrokosmos“ für das, was im Rest der Welt passiert: „Ich glaube, man muss hierherschauen, will man verstehen, wie die Welt bald an vielen Orten sein wird, wenn wir den Schalter nicht umlegen“, lässt er eine junge Libanesin sagen. Zugleich zeigt er am Beispiel Beirut aber auch, wie wichtig es ist, immer wieder die Träume von einst freizulegen. Die Spuren der Leidenschaft, mit der Lilits Großvater einst per Rakete das Weltall ansteuerte, sollen nicht verwehen: „Und so träumen wir weiter.“

„Suchen in der Welt“ ist dabei eine Aufgabe, „suchen in mir“ eine andere. Das ist nicht nur Jarawans Erzählerin wichtig, sondern auch den Protagonistinnen in Paola Lopez’ Roman „Die Summe unserer Teile“. Anhand von drei Generationen von Frauen beschreibt sie, wie Familien unter der Last von Traumata erdrückt werden können. Es sind allesamt Naturwissenschaftlerinnen, die hier porträtiert werden; die in Berlin lebende Autorin ist nicht zufällig selbst Mathematikerin. Das Sprechen fällt all diesen an Exaktheit geschulten Frauen schwer: „In jeder Generation ein Bruch in der Sprache. An den Bruchkanten: Schweigen.“
Die Großmutter flüchtete hier einst vor den Nationalsozialisten aus Polen und landete in Beirut, wo sie Chemie studierte und unter anderem den Bürgerkrieg miterlebte; ihre Traumata äußern sich in Launenhaftigkeit und Abwehr von Nähe. Ihre Tochter Daria kommt in den Siebzigerjahren zum Medizinstudium nach München und gelangt hier zu ähnlich frostigen Erkenntnissen wie Christian Mitzenbachers Roman: „In Deutschland muss sich jeder alleine durchschlagen.“ Ihre Tochter Lucy wiederum wird später vor der erdrückenden Liebe der Mutter nach Berlin abhauen, sie wird wie Mitzenbachers Protagonisten den hohen Wert von Freundschaft schätzen lernen und schließlich auf den Spuren der Großmutter nach Polen reisen.
Auch dieser Roman stellt drängende Fragen: Was macht es mit Menschen, in einem fremden Land neu anzufangen? Welcher Mut ist dafür nötig, welche Kraft? Und welcher Preis zu zahlen und oft über Generationen abzutragen? „Alles ist immer kompliziert und kaputt“, das hat zum Beispiel Lucys Vater erkannt, der als Psychiater in München arbeitet, „nur weißt du es jetzt. Du kennst die Details und kannst sie neu zusammensetzen.“ Das ist ja mal ein Anfang.
Festival Wortspiele für junge Literatur, Mittwoch bis Freitag, 12. bis 14. März, Ampere im Muffatwerk, Detail-Infos unter festival-wortspiele.eu