Junge Europäer:"Wir tragen Verantwortung, über diese Zeit zu sprechen"

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Der Münchner Geschichtsstudent Nelson Tang war mit der Aktion Sühnezeichen in Tschechien. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Menschen wie Nelson Tang, 21, aus München und Paul Canneva, 20, aus Frankreich arbeiten an der Versöhnung nach dem verheerenden Erbe des Zweiten Weltkriegs

Von Laurens Greschat

Als Nelson Tang, 21, im Winter 2018 auf die Straße trat, überkam ihn ein Gefühl der Leere. Die Straße in Budweis, Tschechien, war leicht von frischem Schnee bedeckt. Es war einer dieser Momente, in denen alles in den Hintergrund tritt, und die Stille jeden Gedanken überlagert. Nelson Tang war gerade zu Besuch bei einer Frau, die er betreute. Sie ist tschechische Holocaust-Überlebende und war Zwangsarbeiterin im Nationalsozialismus. Als junges Mädchen, erzählt er, war sie zum Arbeiten nach Prag geschickt worden, ganz allein. Die Alliierten flogen zu dieser Zeit Bombenangriffe. Eines Nachts ging der Fliegeralarm los. Sie hatte Glück und bekam noch einen Platz im Luftschutzbunker. Das Schlimmste war aber noch nicht überstanden. Während über ihr die Bomben auf Prag niederregneten und Menschen starben, klammerten sich unter der Erde die Menschen voller Angst an ihre Liebsten. Die menschliche Nähe spendete den anderen Trost und gab Hoffnung. Sie aber war allein. Niemand war da, um sie in den Arm zu nehmen. Für das damals 14-jährige Mädchen eine traumatische Erfahrung. Die seelischen Narben dieser Nacht sind noch heute nicht verheilt. Bis heute kann sie nicht unter große Menschenmengen gehen.

Tang hat diese Geschichte tief bewegt. So tief, dass er das Gehörte erst einmal sacken lassen musste. Seine Erlebnisse in Tschechien haben sein Leben verändert, sagt er heute, zwei Jahre später. Es sind Geschichten des Leids, zugefügt von Deutschen. Nelson Tang ist einer derer, die helfen, dieses Leid abzubauen. Durch kleine Gesten, Hilfe im Alltag und Gespräche mit Hinterbliebenen. Er war mit der Aktion Sühnezeichen in Tschechien.

Aktion Sühnezeichen ist eine ökumenische Organisation, die 1958 nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges und den Verbrechen des Nazi-Regimes gegründet wurde. Die Organisation vermittelt Freiwillige aus Deutschland unter anderem an Menschen im europäischen Ausland. Im Zentrum steht der Gedanke, dass der erste Schritt zur Versöhnung von den Tätern und ihren Nachkommen gegangen werden muss. Es geht darum, die eigene Schuld anzuerkennen und abzutragen, durch soziale Hilfe für die Menschen und Länder, denen durch die Nationalsozialisten Leid zugefügt wurde. So steht es zumindest im Gründungsaufruf der Organisation.

Aber auch Menschen aus dem europäischen Ausland können in Deutschland arbeiten. Zum Beispiel in der KZ-Gedenkstätte in Dachau. Die Freiwilligen arbeiten dort unter anderem bei dem Projekt "Namen statt Nummern" mit. "Es geht darum, diesen namenlosen, entwürdigten Menschen, die hier in Dachau leiden mussten, wieder eine Geschichte und Biografie zu geben", erklärt Frank Schleicher, Diakon in der Gedenkstätte.

Einer der Freiwilligen, die gerade in Dachau arbeiten, ist Paul Canneva, 20. Für den jungen Franzosen stand nach dem Abschluss seines Bachelor-Studiums der Geschichte und Philosophie im vergangenen Sommer fest, dass er ins Ausland gehen wollte. Im September fuhr er dann nach Deutschland. Heute arbeitet er in der KZ-Gedenkstätte in Dachau. Der Freiwilligendienst ist für ihn die Gelegenheit, Geschichte aus erster Hand zu erfahren, wie er sagt: "Man kann wie im Studium etwas lernen." In Dachau arbeitet Canneva an Biografien der Häftlinge. Das ist nicht seine einzige Aufgabe. Paul Canneva gibt auch Führungen über das Gelände der KZ-Gedenkstätte - unter anderem auf Französisch. Es ist ihm wichtig, dass alle, die wie er aus dem Ausland kommen, die Möglichkeit bekommen, etwas über die Häftlinge des ehemaligen KZ zu erfahren. "Wir tragen die Verantwortung, über diese Zeit zu sprechen", sagt er.

Die Geschichte ist für ihn aber auch Auftrag für die Zukunft. "Der Erste und der Zweite Weltkrieg waren ein großes Trauma für Europa. Aber ich glaube, wir haben verstanden, dass wir eine Freundschaft untereinander aufbauen müssen." Der Freiwilligendienst ist sein Beitrag.

Nelson Tang studiert Geschichte in München an der Ludwig-Maximilians-Universität. Nach dem Abitur 2017 hatte er sich für den Freiwilligendienst entschieden, den einst auch sein Vater mitgemacht hatte, allerdings in Schottland. In Tschechien wohnte Nelson Tang in der Stadt Budweis. "Der Zweite Weltkrieg ist 75 Jahre her. Es gibt noch Menschen, die ihn erlebt haben. Diese Menschen sind jetzt schon alt. Und ich bin einer von denen, die als Letzte noch die Möglichkeit haben, mit ihnen zu reden und aus erster Hand Zeitgeschichte zu erfahren", sagt er, "meine Kinder werden diese Möglichkeit nicht mehr haben." In Budweis arbeitete Nelson Tang morgens mit ehemaligen NS-Zwangsarbeitern und Überlebenden des Zweiten Weltkrieges. Nachmittags kümmerte er sich um jugendliche Sinti und Roma in einem offenen Jugendtreff. Für die Menschen, die er morgens betreute, ging er einkaufen, erledigte Gartenarbeiten und putzte. Oft blieb aber auch Zeit, um mit den Menschen über ihre Erfahrungen zu sprechen.

Aber nicht alle wollten sich Tang öffnen. Für manchen der Menschen, die er betreute, war das Erlebte auch jetzt noch zu belastend. Manchmal erlebte er auch Abweisung. "Ich hatte auch Klienten, deren Freunde fragten: Wie kannst du nur mit diesen deutschen Bastarden reden", sagt er. Andere öffneten sich nur zögerlich. Was sie erzählten, hat sich in Tangs Erinnerung eingebrannt. "Eine Frau hat anfänglich nicht mit mir geredet. Ich arbeitete dann einfach im Garten. Einmal machte sie dann Essen und sagte nebenbei: ,Heute ist Freitag, der 13., da passieren nur schlechte Sachen.' Und ich antwortete: ,Das ist doch so ein dummes Gerücht.' Da entgegnete sie ganz trocken: ,An diesem Tag wurde mein Vater erschossen'", erzählt er.

Zu anderen Menschen, die er betreute, baute Tang eine tiefe Verbindung auf. Ein altes Ehepaar ist ihm besonders in Erinnerung geblieben. Der Mann war 94, seine Frau 90. Der Mann war aufgrund seines Alters geistig nicht mehr ganz auf der Höhe, die Frau konnte keine schweren Gegenstände mehr heben. Deshalb unterstützten sie sich gegenseitig. Der Mann war von den Nazis nach Berlin verschleppt und zur Zwangsarbeit gezwungen worden. Jeden Tag, wenn Tang sie besuchte, erzählte ihm der ältere Mann, welche U-Bahn-Stationen auf dem Weg zwischen seinem Lager und seiner Arbeitsstätte lagen. Jeden Tag aufs Neue. Einen Fehler machte er nie, trotz seines hohen Alters - so sehr hatten sich die schrecklichen Erinnerungen in sein Gedächtnis eingebrannt. Als Tang Tschechien verließ, schenkte ihm das Ehepaar eine Fotografie von sich zum Abschied. Kurz nach seiner Abreise starben die beiden, im Abstand von einer Woche. Das Bild hängt bis heute an Nelson Tangs Wand.

"Die Ohren sind offen, man hört zu. Aber erst im Nachhinein begreift man, was einem eigentlich gerade erzählt wurde", sagt Tang. In diesen Momenten fing er an, nachzudenken über das eigene Leben und darüber, welche Privilegien seine Generation genießt. Privilegien wie Frieden, zum Beispiel. Und offene Grenzen. Privilegien, die auch mit der EU zusammenhängen. Deshalb ist die EU trotz aller Probleme für ihn ein Friedensgarant.

Projekte, wie die Aktion Sühnezeichen und Menschen wie Nelson Tang tragen dazu bei, imaginäre Grenzen abzubauen, und lassen Europa ein Stück näher zusammentreten. Es ist eine Annäherung, auch wenn sie manchmal schwierig oder sogar sehr schmerzhaft sein kann, wie für die Menschen, mit denen Tang gesprochen hatte. "Da tritt jemand aus diesem Land, das ihnen nur Leid und Schmerz bereitet hat, mit ihnen in Kontakt", sagt Tang. "Und diese Menschen sagen: Ich spreche trotzdem mit dir. Das ist auf jeden Fall fundamental für das europäische Zusammenleben", sagt er.

© SZ vom 12.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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