Jung & gut (10): Kamerakino:Neue Münchner Sachlichkeit

Kamerakino sind neben vielem anderen eben auch deutsch, steif und altmodisch.

Egbert Tholl

Notwendige Utensilien eines Kamerakino-Konzerts könnten sein: ein Kofferplattenspieler, transportabel; ein Paar Rollschuhe, gebraucht; ein Waschbrett, dessen Verwendung an diesem Abend nicht geklärt wird. Gut so. Schlüssigeres Beiwerk könnten, angesichts des Namens dieser musikschaffenden Interessenvereinigung, die Filme sein, die im Harry Klein an die Wände projiziert wurden, als die Musiker von Kamerakino dort vor kurzem ihre erste abendfüllende CD "Paradiso" (gomma) vorstellten.

Ein Lied darauf heißt "Deportation Class", und auf den Wänden starten Lufthansa-Maschinen. In der Nähe von Bild und Ton zueinander liegt ein großer Trost; in dieser Hinsicht wird er der letzte sein an diesem Abend. Später läuft "Freaks" von Tod Browning. Und damit ist man mit der Bedeutungsrelation schon viel weiter. Denn Kamerakino ist keine Band des kleinstmöglichen Zusammenhangs. Da ist es ganz unterhaltsam, dass Federico Sánchez, der Sängerpoet von Kamerakino, meint, die Musiker bemühten sich eigentlich, dem Ganzen eine Popstruktur zu geben.

Nun, da fragt man sich, was wohl im Probenraum passiert, bevor Kamerakino ihren Songs so eine Popstruktur gegeben haben, wenn schon das Endergebnis in Sachen Pop, also Populär-, also Massenkultur als herzhaft gescheitert zu bewerten ist.

Kamerakino ist eine Millenniumsband. Hervorgegangen ist sie im Januar 2000 aus einer Ska-Formation, bei der Sánchez die Rolle des vormaligen englischsprachigen Sängers übernahm. Da er aber lieber selbst texten wollte, und zwar auf deutsch, und da er auch nicht ausschließlich ein Genre bedienen wollte, gründete er mit dem Bassisten, Gitarristen und Schlagzeuger - es ist ein Merkmal von Kamerakino, dass die Musiker anscheinend immer das Instrument spielen, das gerade frei ist - Erol Dizdar und dem Geiger Sebastian Meyerhofer eben jene Band, die ein Forum für jedes Mitglied sein soll. Da aber Kunst noch nie wirklich basisdemokratisch funktioniert hat, siegt letztlich der, der am schnellsten ist. Da ist es von Vorteil, dass Sánchez zu den Proben seine fertigen Texte schon mitbringt. Texte, deren allererste Anfänge einst im ursächlichen Zusammenhang mit interessanten Naturerzeugnissen standen, die dann eher eine linguistische Phase der Spracherforschung durchmachten und die nun bei einer neuen Klarheit angelangt sind. Die klingt dann so: "Wir atmen Münchner Luft seit vielen, vielen Jahren. Jetzt haben wir Sauerstoff und haben Knarren."

Die Münchner Luft mag Sánchez wohl tatsächlich, vor allem dann, wenn sie nach Schweinebraten riecht, was man dem Halbspanier kaum ansieht, wenn er mit einem rosa Häkelpolo und einer schwarzen Lederhose auf der Bühne steht. Aber das Disparate ist das Prinzip von Kamerakino. Sie sind die Dissidenten einer Münchner Szene, die es gar nicht gibt, die bestenfalls in einigen Wahlverwandtschaften besteht. Sie sind eine Vereinigung von Leuten, die sehr früh wussten, dass Mainstream nicht zu ihrem Wohlbefinden beiträgt. Und sie tragen den Widersinn in sich, etwa Polina, Russin aus Minsk, Studentin am Konservatorium in München und am Bass mit einer Haltung ausgestattet, die schlüssig beweist, dass man München nach Karl Valentins Tod keinesfalls in Karlsruhe umbenennen sollte.

Trotz der Vielzahl ihrer individuellen Herkünfte sind sie also eine urmünchnerische Band; Federico Sánchez wird auch nicht müde zu betonen, sie stünden auf Ordnung und Disziplin. Das leuchtet ein, denn bei aller Repräsentation des Chaos' funktionieren die Stilvielfalt, der mit jedem einzelnen Lied eingeforderte Nonkonformismus natürlich nur über so etwas wie die repressive Gewalt gestaltender Poesie.

Dann geht Polka mit Neuer Deutscher Welle, Walzer mit Zirkus, Dada mit Varieté zusammen. Oftmals wurden sie schon mit Kurt Weill verglichen. Die Zeit stimmt, die Musik nicht. Kamerakino sind neben vielem anderen eben auch deutsch, steif und altmodisch. Die neue Münchner Sachlichkeit. Wild und schön.

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