SZ-Serie: Bühne? Frei!:Verstrickt

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Julia Wahren lebt in München und arbeitet als Performerin, Musikerin und Regisseurin. (Foto: Judith Haeusler)

Kultur-Lockdown, Tag 137: Die Performerin, Musikerin und Regisseurin kommt mit Schals durch die zähe Zeit

Gastbeitrag von Julia Wahren

Eine Weihnachtskarte steht entsprechend lange schon in unserer Küche, angelehnt an die Schachtel mit den Masken, erst denen aus Stoff (einschichtig, keinem sagen!), jetzt aus FFP2. Auf der Karte ist ein Stempel mit dem etwas verwischten Wort Wissenschaf, neben dem Stempel ein Foto. Fünf Personen, eine sehr alt, eine sehr jung, drei von fünf haben dieselbe Nase. Die gleiche Nase. Jeden Tag drei mal studiere ich die Nasen. Frühstück, Mittag, Abend. Wer ist wie mit wem verwandt? Die Leute mit dem Baby sind wohl seine Eltern, aber die anderen? Schau dir die Nasen an, und du kommst drauf, jedenfalls von Weihnachten bis jetzt mit dreimal täglich Üben. Nasenschauen.

Dann gibt es noch Myrtenschauen, ein Bäumchen direkt oberhalb dieses meines Bildschirms, auf der Fensterbank, erst vor dem Vertrocknen gerettet, dann mit der Nagelschere ... ach was. Das verrät doch ein bisschen zu viel über die Periode, die wir durchleben, wie ich sie durchlebe, ein bisschen Piazzolla üben, ein bisschen fasten, ein bisschen vor die Tür. Das Foto mit den Nasen begleitet alle Phasen. Verzeihung.

Dann gibt es noch Facebookschauen, jeden Tag dreimal überlege ich, mich da abzumelden, aber es ist nicht mehr so schlimm wie im ersten Lockdown, wo ich mich schlecht fühlte auf meinem Sofa mit Harry Potter, weil jeder, JEDER Kollege und JEDE Kollegin mit handgestricktem Videoclip vorführte, dass die KUNST ihn/sie nicht ruhen lässt, die Kreativität ohne Atempause aus ihm rausströmt, o Gott, da kommt schon wieder was, Inspiration wie Schluckauf oder Schlimmeres. Ich dagegen: im Frühling Marmelade, jetzt Schals. Meine Schwägerin musste mir schon Stricknadeln leihen, drei Schals in rosa, rosa (ja, wirklich) und petrol liegen halb und dreiviertel fertig herum, linke Maschen statt Videoclips, das ist auch billiger, denn die Videoclips sind inzwischen professionalisiert und brauchen auch viel mehr Zeit als die Schals.

Die Nasen sind übrigens, nach bald zwei Monaten weiß ich es sicher, vom Vater an seine jetzt erwachsenen Kinder weitergereicht. Ich sehe diese Familie sehr gern an. Zuletzt standen wir zum Jahreswechsel mit abfrierenden Zehen zusammen vor einem zuen Kino in Schwabing rum (heißer Apfelsaft mit Gin, ebenfalls nicht weitersagen, aber vor neun Uhr nachts). Das Baby schlief beim Freund vorm Bauch, auf dem Foto schläft es auch. Uuups!

Das Foto ist übrigens aus dem späten Herbst, als man noch draußen sitzen konnte, aber eben auch draußen sitzen musste. Es ist ein Lockdownbaby, man siehts ihm nicht an. Gleich neben ihm steht das Wissenschaf, ich hoffe, es bringt uns voran. Oh, Verzeihung, schon wieder.

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© SZ vom 18.03.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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