Jugendliche Flüchtlinge in Bayern:In fünf Minuten um zwei Jahre gealtert

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Jugendliche Flüchtlinge werden von den Behörden rasch für volljährig erklärt, auch wenn diese beteuern, jünger zu sein. Denn das kommt den Staat billiger. Mustafa Rezai ist aus Afghanistan in München gelandet - und innerhalb von wenigen Minuten zwei Jahre älter geworden.

Elisabeth Kimmerle

Bis heute kann Mustafa Rezai nicht begreifen, dass das Alter in seinem Ausweis sein Leben in andere Bahnen lenken sollte. Binnen fünf Minuten hat ihn ein Beamter der Bundespolizei für volljährig erklärt - länger braucht auch die Kassiererin im Supermarkt nicht, um zu entscheiden, wem sie Zigaretten verkaufen darf und wem nicht. Mustafa verkauft sie keine Zigaretten.

Am Ende seiner Flucht aus Afghanistan ist Mustafa Rezai in München gelandet. Er hofft auf ein neues Leben in Deutschland, am Arm trägt er die Farben Schwarz, Rot und Gold. Doch bislang ist er von diesem Leben enttäuscht: Ein Ausweispapier gelte hier mehr als ein Mensch, sagt er. (Foto: Robert Haas)

Am 28. April kommt Mustafa Rezai in München an, der letzten Station eines langen Wegs nach Europa. Zwischen seinem alten Leben in Afghanistan und seinem neuen Leben liegen zehn Monate, mehr als 6000 Kilometer und sechs Grenzen, die er überquert hat, im Gepäck nichts als vage Vorstellungen von einer besseren Zukunft. Am Hauptbahnhof wird Mustafa von der Bundespolizei aufgegriffen, allein und ohne Papiere. Er sagt, er sei 16.

Nach kurzer Gesichtskontrolle setzen die Beamten sein Alter auf 18 fest, eine gängige Praxis bei Flüchtlingen ohne Ausweis. So kommt Mustafa nicht in eine Wohngruppe für Jugendliche, sondern ins Asylbewerberheim in der Baierbrunner Straße in München. Dort teilt er sich ein Zimmer mit fünf älteren Flüchtlingen, die zu trinken angefangen haben vor lauter Perspektivlosigkeit. "Alles, was wir tun können, ist essen und schlafen", klagt Mustafa - das neue Leben lässt auf sich warten. Manchmal liegt er nächtelang wach, so unerträglich ist ihm die Ungewissheit.

Zuständig für ihn ist die Regierung von Oberbayern, auch für die Altersfestsetzung. Doch als die Sachbearbeiter in der Erstaufnahmestelle Mustafas Akte anlegen, übernehmen sie die Altersschätzung der Polizisten ohne Nachprüfung. Das sei eine "Ausnahme", sagt Regierungssprecher Heinrich Schuster, an seiner Volljährigkeit habe es keine Zweifel gegeben. Obwohl Mustafa widerspricht: Nun ist er offiziell erwachsen.

Eine Entscheidung, die seine Aussichten auf einen Neuanfang grundlegend verschlechtert. "Jugendliche, die volljährig gemacht werden, haben null Perspektive", sagt Niels Espenhorst vom Bundesverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge. Wer jünger als 18 ist, fällt unter den Jugendschutz und bekommt einen Vormund. "Im deutschen Asylrecht sind 16-Jährige verfahrensmündig, und die allgemeine Schulpflicht ist zu Ende. Ab 18 sind sie auf sich allein gestellt", erklärt Elisabeth Ramzews, Leiterin des Flüchtlingssozialdienstes der Inneren Mission München.

Es geht auch um Geld. Minderjährige kommen meist in Einrichtungen der Jugendhilfe unter, etwa in Wohngruppen. Ein solcher Platz kostet bis zu 6000 Euro im Monat, in einer Flüchtlingsunterkunft hingegen nur etwa ein Zehntel. In diesem Jahr hat sich die Innere Mission bereits um 135 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gekümmert; rechnet man die strittigen Fälle dazu, liegt die Zahl weit höher. "Die Erstaufnahmen sind exorbitant gestiegen", berichtet Ramzews, und der Höhepunkt sei noch nicht erreicht. "Wir sind schon jetzt am Kollabieren." Die Behörden sind auf diesen Ansturm nicht eingerichtet; es fehlt auch an Plätzen in Jugendhilfeeinrichtungen und an Personal.

Die Entscheidung zu treffen, ob ein Flüchtling minderjährig ist oder nicht - dies scheuen die Ämter oft. "Die Altersfestsetzung ist ein schwieriges Aufgabenfeld, bei dem die Jugendlichen der Willkür preisgegeben sind", kritisiert Ramzews. Insgesamt sechs Behörden sind mit der Erstaufnahme unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge befasst; es ist die Pflicht einer jeden, das Alter nachzuprüfen, sollten sich Zweifel an seiner Volljährigkeit auftun. Mustafa Rezai, der nicht schreiben oder lesen kann, hat andere Erfahrungen gemacht. Regierung, Bundesamt, Jugendamt - egal, bei welcher Behörde er von seinem Widerspruchsrecht Gebrauch gemacht hat, er bekam immer dieselbe Antwort: Das ist nicht mein Problem. "Wessen Problem ist es dann?", fragt Mustafa verzweifelt.

Doch die bisherige Praxis der Altersfestsetzung ist nach einem jüngst ergangenen Urteil des Münchner Oberlandesgerichts rechtswidrig. Dieses rügte, dass das Familiengericht im Fall eines jungen Iraners in München die Altersschätzung der Bezirksregierung ohne Überprüfung übernommen hatte. Auch sei nicht ersichtlich, inwiefern die Mitarbeiter der Regierung die erforderliche Kompetenz hätten, das Alter des Betroffenen festzustellen, heißt es weiter. "Die Sachbearbeiter sind weder medizinisch noch psychologisch oder ethnologisch vorgebildet", kritisiert Ramzews. Sie fordert, eine neutrale Instanz müsse die Altersfestsetzung übernehmen. Welche Konsequenzen aus dem Urteil zu ziehen sind, prüft die Regierung nach eigenen Angaben derzeit.

Noch wird in Bayern das Alter durch Inaugenscheinnahme und Fragen zum Lebensweg geschätzt. "Das Aussehen ist der erste Anhaltspunkt, aber auch wie der Flüchtling sich verhält und was er sagt, ist ausschlaggebend", sagt Regierungssprecher Schuster. Die Sachbearbeiter seien durch langjährige Erfahrung und gesunden Menschenverstand qualifiziert. Laut Ramzews kommt es in München täglich zu drei bis vier Altersfeststellungen, die höchstens 15 Minuten dauern. Als Dolmetscher werde meist ein Mitarbeiter des Wachdiensts hinzugezogen, der die Sprache des Jugendlichen spricht - mit dessen Hilfe aber nur ein radebrechendes Gespräch zustande komme.

Diese 15 Minuten entscheiden über die Zukunft des Jugendlichen. Dass den Beamten die Tragweite ihrer Entscheidung bewusst ist, bezweifelt Ramzews. Diesen Schuh will sich auch die Regierung von Oberbayern nicht anziehen. "Wir sind eine Unterbringungsbehörde. Der materielle Anspruch, den die Flüchtlinge möglicherweise haben, spielt in den ersten Wochen keine Rolle", sagt Schuster und fügt nach kurzem Schweigen hinzu: "Außerdem heißt es ja nicht, so bleibt's für immer, wenn einer mal 18 ist."

Weil für die Erstaufnahme hier die Ordnungsbehörden zuständig sind, hält Verbandsreferent Espenhorst die Situation minderjähriger Flüchtlinge in Bayern für besonders fatal. "Jugendliche werden als Ausländer behandelt, nicht als Kinder", sagt er. In anderen Ländern wie Hessen ist das Jugendamt für die Erstaufnahme zuständig. Alle Jugendlichen werden zunächst in einer Clearingeinrichtung untergebracht, wo in längeren Gesprächen in Anwesenheit eines Dolmetschers und eines Psychologen der Schutzbedarf des Jugendlichen ermittelt wird.

Auch wenn Zweifel an seiner Minderjährigkeit bestehen, wird er bis zu zwölf Wochen lang in Obhut genommen. So gelangt das Jugendamt zu einer gründlichen Einschätzung. "Die Erfahrung bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ist durch die Bank: Am Anfang sehen sie älter aus", weiß Hubert Heinhold, der als Rechtsanwalt seit Jahren mit solchen Fällen befasst ist. "Sie werden erst nach ein paar Monaten kindlicher, wenn die Strapazen der Flucht und die Anspannung von ihnen abgefallen sind."

Was Mustafa Rezai erlebt hat, reichte für das Leben eines 50-Jährigen aus. Alleine ist er aus Afghanistan geflohen, der Rest seiner Familie mittlerweile auch - nach Iran, aus Angst vor den Taliban. Mustafas Gesicht hat weiche, fast kindliche Züge, doch sein Auftreten ist das eines Erwachsenen. "Ich habe in meinem Leben schon so viele Dinge gesehen", sagt er, als sei er ein Greis. "Ich bin 16 Jahre alt, ich will zur Schule gehen und mit anderen Jugendlichen zusammen wohnen." Mustafa blickt zu Boden und sagt dann leise: "Aber als Flüchtling stehst du ganz hinten."

Die als volljährig Geschätzten kommen mit dem Jugendamt nie in Kontakt. "Sie geraten völlig aus dem Blickfeld der Behörden", kritisiert Espenhorst, "wenn sie nicht selber Ärger machen, fällt das nie auf." Mittlerweile hat das Jugendamt Mustafas Jugendhilfebedarf anerkannt - dazwischen lagen zwei Wochen in einer psychiatrischen Klinik.

Aus Verzweiflung darüber, dass ihm niemand glaubt, hatte sich Mustafa mit einer Rasierklinge tief in den Oberarm geschnitten. "Das war meine einzige Chance, dass mich jemand bemerkt", sagt er ruhig. Doch ist leise Verbitterung zu hören, als er fragt: "Was zählt hier mehr - ein Mensch oder ein Stück Papier?"

© SZ vom 03.08.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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