Jugendkriminalität:"Heime dürfen nicht das Ende der Hilfe sein"

Spektakuläre Fälle wie der Tod von Kevin in Bremen, aber auch Gewaltverbrechen Jugendlicher wie an dem Münchner Taxifahrer entfachen immer wieder die Diskussion über die Rolle der Jugendhilfe. Die SZ sprach mit der Münchner Jugendamtsleiterin Maria Kurz-Adam darüber.

Sven Loerzer

SZ: Keine intakte Familie, kein Schulabschluss, keine Perspektive - so hat die Polizei den persönlichen Hintergrund der beiden mutmaßlichen Taxiräuber charakterisiert. Hat die Jugendhilfe bei ihnen versagt?

Jugendkriminalität: Immer schneller werden Messer gezückt.

Immer schneller werden Messer gezückt.

(Foto: Foto: dpa)

Kurz-Adam: Wären sie in einer längerfristigen pädagogischen Hilfe gewesen, dann müsste man natürlich fragen, ob die Hilfe gegriffen hat. Also ob dabei zum Beispiel schulische und berufliche Perspektiven entwickelt worden sind oder die Frage des familiären Zusammenlebens konsequent bearbeitet wurde. Aber auch hier ist festzuhalten: eine 100-prozentige Erfolgsgarantie gibt es für keine Hilfe.

Dazu sind die Lebenslagen dieser Jugendlichen auch häufig zu schwierig, als dass in jedem Problembereich gleich eine Lösung gefunden werden kann. Dies entlastet die Kinder- und Jugendhilfe dennoch nicht, das jeweils Beste zur Vermeidung weiterer Problemkarrieren zu tun.

SZ: Den Tätern droht bei einer Verurteilung eine längere Haftzeit. Ist damit der Fall für die Jugendhilfe erledigt?

Kurz-Adam: Für die Jugendhilfe schon, nicht aber für die Pädagogik. Auch die Jugendstrafe hat einen pädagogischen Auftrag, der Vollzug muss sehr stark auf die Erziehung und die Resozialisierung angelegt sein.

SZ: Jugendliche Gewalttäter haben oft schon eine längere Straftatenkarriere hinter sich. Wo kann die Jugendhilfe ansetzen, dass es dazu nicht kommt?

Kurz-Adam: Auf den Anfang kommt es an, wie es auch der 12. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung formuliert. Das bedeutet, dass man schon sehr früh beim Erkennen von belastenden Familiensituationen, nicht gelingenden Bildungskarrieren ansetzt. Das fängt im Kindergartenalter an, es zeichnet sich in der Schule ab, besonders bei Übergängen, die Kinder erleben: Beim Eintritt in den Kindergarten, bei der Einschulung, dem Übergang in eine weiterführende Schule - da kann man Risiken erkennen.

SZ: Die Kinder fallen dort auf.

Kurz-Adam: Die Risiken lassen sich beispielsweise an den schulische Leistungen erkennen, an den Fehlzeiten, am gesundheitlichen Zustand oder an emotionaler Vernachlässigung. In all diesen Fällen wäre die Jugendhilfe gefordert, hochpräventiv einzusteigen. Wir haben ja häufig das Problem, dass wir erst dann einsteigen, wenn die Situation zu schwierig geworden ist. Hilfe bringt dann nicht mehr den erhofften Erfolg - Jugendstrafvollzug im übrigen auch nicht, wie die Rückfallquote zeigt.

SZ: Wie lässt sich der präventive Ansatz stärken?

Kurz-Adam: Jugendhilfe ist ja nicht allein verantwortlich für solche Verläufe. Da sind die Eltern drin, die Schule, der Freundeskreis. Wir stellen, dass die Jugendlichen in ihrer Karriere immer wieder Menschen und Systemen begegnen, die, wenn sie koordinierter gearbeitet hätten, einen anderen Verlauf hinkriegen hätten können. Häufig ist man immer erst dann aktiv, wenn es im Sinne komplexer Problemanhäufung schon zu spät ist. Wir müssen gerade an den Übergängen die Hilfen gut koordinieren.

Um keinen falschen Eindruck zu erzeugen: Das Scheitern der Jugendhilfe ist nicht die Regel, sondern die seltene Ausnahme. Auch bei den 83 Intensivtätern sind wir in enger Zusammenarbeit mit der Polizei sehr nah dran. Wir tauschen uns permanent aus, kennen jeden Jugendlichen, die Familien - da sind wir sehr nah dran. Die Polizei hat da auch ein durchaus pädagogisches, zukunftsorientiertes Konzept, weil es auch hier um Vermeidung von Kriminalitätskarrieren geht.

SZ: Immer wieder wird seit der Straftäterkarriere von Mehmet von politischer Seite die Forderung erhoben, jugendliche Straftäter nichtdeutscher Nationalität einfach abzuschieben.

Kurz-Adam: Mehmet ist abgeschoben worden und wieder zurückgekommen, aber es ist auch nicht besser geworden. Unter dem Aspekt des Erfolges halte ich überhaupt nichts von Abschiebung. Aber man muss dem Jugendlichen auch in der Hilfe zeigen, hier ist eine Grenze, wir nehmen die Straftaten sehr ernst, das darf nicht mehr passieren. Es muss deutlich werden, dass es keine Verharmlosung gibt. Die Taten sind hier geschehen, die Probleme müssen dann da gelöst werden, wo sie entstanden sind: hier.

SZ: Ist dazu auch eine intensiv-sozialpädagogische Einzelbetreuung im Ausland geeignet? Manche nennen das ja Abenteuerurlaub.

Kurz-Adam: Diejenigen, die das behaupten, sollten sich das mal vier Wochen anschauen, dann wüssten sie, das ist kein Urlaub, sondern harte Arbeit, Tag und Nacht, rund um die Uhr. Ich teile die Auffassung des Gesetzgebers, dass sehr genau geprüft werden muss, ob die Probleme nicht dort zu lösen sind, wo sie entstanden sind.

Andererseits haben wir eine kleine Anzahl von Fällen - meist mit einem stark psychiatrischen Hintergrund - für die wir die Hilfe durch solche Auslandsprojekte brauchen. Die Menschen, die diese harte Arbeit leisten, setzen das für die Jugendhilfe wichtige Signal: Wir geben niemanden verloren.

SZ: Könnte ein Herabsetzen des Strafmündigkeitsalters von derzeit 14 Jahren zur Lösung der Probleme mit bislang strafunmündigen Kindern beitragen?

Kurz-Adam: Das Problem ist damit nicht gelöst, wenn wir die Grenze zwei Jahre runtersetzen. Es verschiebt nur die Probleme, derer sich die Jugendhilfe annehmen muss.

SZ: In den letzten Monaten haben sich Berichte über krasse Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern gehäuft. Welche Konsequenzen ziehen Sie für München daraus?

Kurz-Adam: München ist beim Kinderschutz gut aufgestellt. Es gibt zahlreiche Gefährdungsfälle, also Vernachlässigung, Zeugenschaft elterlicher Gewalt. Aber für diese Kinder und Jugendlichen, die gefährdet aufwachsen, ist ja gerade die Jugendhilfe da. Dennoch müssen wir Fälle wie Kevin in Bremen genau daraufhin anschauen, wer wie gehandelt hat und welche Schlussfolgerungen sich daraus ziehen lassen.

Mir geht es darum, dass eines nicht passieren darf: Dass ein Kind tot ist und eine Akte vier Monate nach dem Tod weiterläuft, dass sich die Erwachsenen unterdessen darüber unterhalten, wie geht es dem Kind. Solche Lücken darf es nicht geben. Darum sind Hausbesuche so wichtig. Gerade bei Alkohol- und Drogenproblemen der Eltern muss die Devise gelten, möglichst lückenlos das Wohl des Kindes zu überwachen.

SZ: Der Fall Kevin hat auch die Diskussion darüber entfacht, welche Rolle Kostenüberlegungen für die Jugendhilfe spielen. In München ist die Heimunterbringung von Kindern kontingentiert.

Kurz-Adam: In München sind zwar die Heimplätze kontingentiert, aber es hat an anderer Stelle, bei den ambulanten Erziehungshilfen, ein massiver Ausbau stattgefunden. Hier bewegt sich die Jugendhilfe, verglichen mit anderen Regionen, auf einem hohen, sehr guten Niveau. Ein Kontingentieren der Heimunterbringung geht nicht ohne das Angebot einer parallelen ambulanten Versorgungsstruktur. Entscheidend darf nicht sein, was ist billiger, sondern, was ist die richtige Hilfe. Deshalb müssen wir den Blick auf die Wirksamkeit richten. Und da müssen wir davon abkommen, ein Heim als Ende der Hilfeversuche zu betrachten. Eine Heimunterbringung kann auch der Anfang weiterer Hilfen sein.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: