Jüdisches Museum München:Spuren lesen

"Im Labyrinth der Zeiten" nennt Bernhard Purin seine Ausstellung. Er folgt darin Mordechai W. Bernstein durch 1700 Jahre deutsch-jüdische Geschichte

Von Eva-Elisabeth Fischer

Was sagt einem das, dieses Fragment einer Öllampe aus dem 4. Jahrhundert, dekoriert mit einer Palmzweig-umkränzten Menora? Es stammt, so heißt es, aus Afrika, wurde 1901 gefunden in Trier, also in der Gegend, wo sich, so ist es dokumentiert, die ersten Juden in Deutschland vor 1700 Jahren angesiedelt hatten. Der Fund von einst wurde 50 Jahre später wiederentdeckt und fand sich in der Sammlung eines Mannes namens Mordechai W. Bernstein wieder. Zu dem tönernen Bruchstück aber fehlt dem Betrachter von heute erst einmal die Geschichte. Dafür braucht er Bernhard Purin, den Leiter des Jüdischen Museums in München. Und der liebt als Ausstellungsmacher seit je das Prinzip Pars pro toto und füllt die Lücken, erzählt die Geschichten, die sich der Betrachter allein oft genug nur schwer zusammenreimen kann.

Entsprechend verfährt er auch bei seiner jüngsten, zusammen mit Ayleen Winkler erarbeiteten Ausstellung im Jüdischen Museum anlässlich des Jubiläums zu 1700 Jahren deutsch-jüdischer Geschichte. Jenes gleichermaßen dem Alltag wie dem Rituellen zuzuordnende Öllämpchen ist der älteste Gegenstand unter insgesamt 18 Exponaten, welche außer ihrem Bezug zum Judentum nichts über sich und keinen weiteren Zusammenhang offenbaren. Sie symbolisieren als Fundstücke eine fiktive Reise durch die Jahrhunderte und legen dabei Zeugnis ab von der zerstörten deutsch-jüdischen Kultur in Deutschland.

„Im Labyrinth der Zeiten"

18 Exponate stehen für die Nachforschungen von Mordechai W. Bernstein zur zerstörten deutsch-jüdischen Kultur. Zu den Fundstücken gehört eine verbrannte Tora-Krone aus Augsburg 1867/ 1868.

(Foto: Michael Niemetz)

Aber was hat da diese Pietà zu suchen? Sie stand, so Purin, in der ehemaligen Synagoge zu Schnaittach im ehemaligen Thoraschrein. Purin kennt sie und die Geschichte dazu schon lange, nämlich aus seiner Zeit als Gründer und Leiter des Jüdischen Museums in Franken. Die Schnaittacher Synagoge nämlich wurde von den Nazis nicht eingeäschert, sondern zum Heimatmuseum umgewidmet. An ihr vollzog sich ein paar Jahrhunderte später die im Mittelalter begründete Tradition, Synagogen gewohnheitsmäßig umzuwidmen beziehungsweise mit Marienkirchen zu überbauen.

Museumsleiter Purin mag es, die Museumsbesucher mit seiner Leidenschaft anzustecken, die Geschichte hinter den Dingen zu erforschen und zu entdecken. Und noch lieber mag er es, Wissensdurstige durch seine Ausstellungen zu führen und ihnen genau dabei erzählend zu helfen - diesmal wandelnd auf den Spuren Mordechai W. Bernsteins und dessen musée imaginaire gefundener Objekte. Allen Erklärungen zum Trotz: Wer sich ins "Labyrinth der Zeiten" begibt, muss arbeiten, muss Zusammenhänge und Hintergründe herstellen - wie in sämtlichen Ausstellungen im Jüdischen Museum davor.

Im Labyrinth der Zeiten

Wer sich ins "Labyrinth der Zeiten" begibt, muss Zusammenhänge und Hintergründe herstellen - wie in sämtlichen Ausstellungen im Jüdischen Museum davor.

(Foto: Jüdisches Museum München)

Purin begibt sich zunächst bei einer Pressekonferenz per Zoom und fortan gern auch in Einzelführungen nach Voranmeldung live von Objekt zu Objekt "mit Mordechai W. Bernstein durch die 1700 Jahre deutsch-jüdische Geschichte" (so der Untertitel der Schau). Zu den zu erforschenden Objekten also kommen diesmal auch noch die verschlungenen Wege ihrer Entdeckung hinzu, wie sie der Gestalter der Ausstellung Martin Kohlbauer mittels Spiegeln und Eisengestängen als Installation zu versinnbildlichen sucht.

Der Besucher also begibt sich sozusagen auf eine archäologische Reise, fängt gedanklich an zu graben und zu schürfen nach dem, was war. Und wird so zum Begleiter von Mordechai W. Bernstein, einem Ostjuden, der selbst zuletzt im Gulag überlebte und nach den blutigen Wirren von Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden durch Hitlers willige Vollstrecker drei Jahre lang von 1948 bis 1951 in den Trümmern in 800 Orten Deutschlands nach Überresten deutsch-jüdischer Kultur fahndete. Zur interessantesten Entdeckung wird für den Ausstellungsbesucher also erst einmal die Person Mordechai W. Bernstein selbst. 1905 in Belarus geboren und traditionell jüdisch erzogen, zählte er, vielfältig interessiert, polyglott und ein Kosmopolit, ein Weltenwanderer - zu den Nachfahren der jüdischen Aufklärung. Politisch engagiert als "Bundist" in der jüdischen Arbeiterbewegung, wandte er sich unterschiedlichen Berufen zu. Als Journalist begab er sich nach Kriegsende im Auftrag des "Jüdischen Wissenschaftlichen Instituts", kurz YIVO, das 1941 von Wilna nach New York verlegt worden war, auf die Suche nach Dokumenten, Materialien und Objekten, die während der NS-Zeit geraubt worden waren. 100 000 Unterlagen zu den Überlebenden der Schoah hatte er bis Ende 1951 an das YIVO geschickt. Als Berater der Jewish Restitution Successor Organization war der den Menschen zugetane Bernstein interessiert daran, dass überlebende, in der Welt zerstreute Juden zurückbekommen sollten, was ihnen geraubt worden war. Von Hannah Arendt heißt es, sie habe Bernsteins Arbeit geschätzt, während sich Gershom Scholem an dessen Stelle jemanden gewünscht hätte, der perfekt Deutsch sprach. Schon wahr. Bernstein hatte, bevor er seine dreijährige Suche begann, keinerlei Bezug zum deutschen Judentum. Die drei Bände zur jüdisch-deutschen Geschichte schrieb er auf Jiddisch. Deren erster Band, erschienen 1955, trägt den Titel "In labirintn fun tkufes" (so die englische Transkription der hebräischen Lettern), zu Deutsch "In den Labyrinthen der Zeiten" und diente nun als Vorlage für den Ausstellungstitel. Es wird spannend sein, in den nächsten Tagen den Katalog zur Ausstellung, erschienen bei Hentrich und Hentrich, mit 18 Aufsätzen von Mordechai W. Bernstein zu bekommen und damit noch mehr über die Exponate zu erfahren. Bernhard Purin machte bereits im Jüdischen Museum in Franken da weiter, wo Bernstein aufgehört hatte und suchte unter anderem nach den rechtmäßigen Besitzern eines prächtigen Tora-Schilds aus Nürnberg, 1661 - 1670: einer Familie Dottenheimer aus Günzenhausen. Er wurde fündig in New York, wohin die Dottenheimers ausgewandert waren und sich fortan Dottheim nannten.

Im Labyrinth der Zeiten

Ein Bild der Münchner Hauptsynagoge gegenüber der Maxburg am Vorabend ihrer Zerstörung im Juni 1938.

(Foto: Jüdisches Museum München)

Die Digitalisierung macht es möglich: Zugeschaltet zur Pressekonferenz ist eine Enkelin der Familie. Sie erzählt von der Bat Mizwa ihrer Schwester, bei der das geraubte und als einziges Andenken restituierte Tora-Schild wieder seiner eigentlichen Bestimmung zugeführt worden war. Nun ist es als Leihgabe "Im Labyrinth der Zeiten" zu bestaunen. Und die archäologische Forschung zu den ermordeten Juden, zur zerstörten deutsch-jüdischen Kultur, macht zumindest für ein paar Minuten den Zeitsprung ins Heute zu einer lebenden Jüdin - wenn auch in New York.

Im Labyrinth der Zeiten. Mit Mordechai W. Bernstein durch 1700 Jahre deutsch-jüdische Geschichte. Jüdischen Museums München, Sankt-Jakobs-Platz 16, Di bis So, 10-18 Uhr. Auskünfte zu den Buchungen von Rundgängen per E-Mail und telefonisch unter fuehrungen.jmm@muenchen.de bzw. 089 / 233 29 402

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