Jüdische Geschichte:Wie München vor 80 Jahren seine Synagoge verlor

Hauptsynagoge in München, 1911

Die Synagoge an der Herzog-Max-Straße wurde 1887 eingeweiht.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Das architektonische Kunstwerk in der Herzog-Max-Straße war ein Zeichen dafür, dass Juden ein Teil der Gesellschaft waren. Doch dann deklarierten die Nazis die Synagoge als "Verkehrshindernis".

Der Komponist und Sänger Emanuel Kirschner, geboren 1857, war Oberkantor der Hauptsynagoge an der Herzog-Max-Straße, ehe er 1926 in den Ruhestand trat. Am 8. Juni 1938 aber bittet ihn Alfred Neumeyer, der Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde München, noch einmal in der Synagoge zu singen. Es würde das letzte Mal sein, denn am Morgen war Neumeyer mitgeteilt worden, dass der Prachtbau nahe der Maxburg am folgenden Tag abgerissen werde.

Der 81-jährige Kirschner soll beim Abschiedsgottesdienst den Schlussgesang vortragen. Er ist aus der Übung, er ist erschüttert, und dennoch kommt er dem Wunsch nach. Kirschner singt den 102. Psalm. Davon berichtet er in einem Brief: "Als ich 'mit gebrochenem Herzen' die Treppe zum Almemor hinanstieg, als ich zwar demütig, aber dennoch mit klarer Stimme die meinem Herzen entströmenden Worte zu sagen begann 'T'philloh l'oni ki jaatof' (Ein Gebet des Elenden, wenn er betrübt ist und seine Klage vor dem Ewigen ausschüttet) und tiefe Ergriffenheit in der die Synagoge füllenden Gemeinde auslöste, dankte ich meinem Schöpfer, der mir diese Widerstandskraft verlieh."

Erschütternde Szenen spielen sich ab. Die jüdische Gemeinde, deren Mitglieder seit der "Machtergreifung" Hitlers von den Nazis drangsaliert, gedemütigt, ausgegrenzt und beraubt werden, steht vor der unfassbaren Tatsache, dass ihre wichtigste Synagoge der NS-Terrorpolitik zum Opfer fällt. Viele Rabbiner aus dem ganzen Land nehmen an der Abschiedsfeier teil - eher zufällig. Eigentlich sind sie in der Stadt, weil gerade eine Versammlung des deutschen Rabbinerverbands in München tagt. Wie die jüdischen Bürger der Stadt nehmen sie Abschied von dem so bedeutenden Gotteshaus, gewiss in Angst, was da noch kommen würde. Kirschner schreibt: "Greise und Jünglinge drängten sich an die Träger der Thora heran, um mit herzzerreißenden Schluchzen die vertriebene Thora küssend zu empfangen. Das war wohl der ergreifendste Moment der improvisierten gottesdienstlichen Veranstaltung."

Das Novemberpogrom, die sogenannte Reichskristallnacht, zu der Joseph Goebbels am Abend des 9. November 1938 beim Treffen der "Alten Kämpfer" im Saal des Alten Rathauses leicht verklausuliert, aber unmissverständlich aufruft, erlebt Kirschner nicht mehr. Doch bleibt ihm nicht erspart, mit ansehen zu müssen, wie die Synagoge, in der er viele Jahre gewirkt hatte, dem Erdboden gleichgemacht wird. Auch seine Wohnung muss er mit seiner Frau räumen. Das alles ist zu viel für ihn. Kirschner stirbt am 28. September 1938.

Die Hauptsynagoge an der Herzog-Max-Straße war ein halbes Jahrhundert lang der Mittelpunkt des religiösen und kulturellen Lebens der Münchner Juden; sie war nicht nur ein sakraler Ort, sondern auch einer, an dem Konzerte, Vorträge und dergleichen stattfanden. Am 14. Februar 1884 hatten die Bauarbeiten begonnen, nach knapp drei Jahren war das neoromanische Bauwerk fertiggestellt. Entworfen hatte es der Architekt Albert Schmidt, der unter anderem auch die Lukaskirche und den Löwenbräukeller konzipiert hatte.

Dieses Gebäude war nicht irgendein Gotteshaus, es war ein Symbol für das Selbstbewusstsein der jüdischen Gemeinde am Ende des 19. Jahrhunderts, die, für jedermann sichtbar, damit zeigte, dass sie zur Stadtgesellschaft gehörte - so zumindest schien es aus Sicht der Zeitgenossen. Schon der Standort im Herzen der Stadt signalisierte, dass die Zeiten vorbei sind, in denen die jüdische Gemeinde gezwungen war, eine Randexistenz zu führen.

König Ludwig II. hatte veranlasst, dass die Kultusgemeinde das begehrte Grundstück gegenüber der Maxburg für 348 000 Mark erhält. Darauf entstand ein architektonisches Juwel, das die Silhouette Münchens noch eindrucksvoller machte. Wer vom Lenbachplatz auf die Altstadt schaute, hatte gewissermaßen ein christlich-jüdisches Architekturensemble im Blickfeld: die Frauenkirche und die Hauptsynagoge. Die Errichtung eines neuen Gotteshauses war notwendig geworden, weil die jüdische Gemeinde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderte stetig wuchs.

Viele Juden zogen vom Land in die Städte, weil sie dort bessere Arbeitsmöglichkeiten fanden und auch ein besseres Leben erhofften. Um das Jahr 1880 lebten rund 4200 Juden in München, die alte, 1826 vollendete Synagoge an der Westenrieder Straße war längst zu klein geworden. Einen winzigen jüdische Betsaal hatte es wohl schon im 13. Jahrhundert gegeben, Ende des 14. Jahrhunderts besaßen die Münchner Juden eine bescheidene Synagoge in einer Gasse im Bereich des heutigen Marienhofs. Kontinuierlich entfalten konnte sich die jüdische Kultur in München aber kaum, immer wieder gab es Phasen, in denen Juden Opfer von Pogromen oder Vertreibungen wurden.

Die erste Synagoge, die den Nazis zum Opfer fiel

Abbruch der Synagoge in München, 1938

Im Juni 1938 begann der von Hitler befohlene Abriss der Synagoge.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Auch im 19. Jahrhundert trieben antisemitische Kräfte ihr Unwesen, und doch sah es im Fin de siécle so aus, als wären die finstersten Zeiten überwunden. Der abendliche Festakt zur Einweihung der neuen Synagoge am 16. September 1887 war ein gesellschaftliches Ereignis, an dem neben den Repräsentanten der jüdischen Gemeinde auch Minister, Bürgermeister und andere Honoratioren teilnahmen. Einige Wochen zuvor hatte bereits Prinzregent Luitpold den Neubau besichtigt und seine "Anerkennung über die Großartigkeit des Bauwerkes" ausgesprochen. Das war nicht übertrieben: Nicht nur die Fassade machte Eindruck, auch die Inneneinrichtung war von erlesener Qualität.

Der Rabbiner Leo Baerwald schwärmte: "Die aus verschiedenen Marmor gebildeten Säulen, Stufen und Umkleidungen, die reichen Metallbeschläge der Türen, die bronzenen Leuchter betonen eindrucksvoll die Ostwand mit heiliger Lade, Estrade und Kanzel. Sie sind von wohltuender Harmonie in Farbe und Proportionen und wirken, ohne überladen zu sein, prächtig, da die Synagoge sonst große Schlichtheit aufweist." Mehr als 1,3 Millionen Mark - eine gewaltige Summe für die damalige Zeit - hatte die Kultusgemeinde für den Grunderwerb, die Baukosten und die Innenrichtung zusammengekratzt. Mit 1000 Sitzen für die Männer und 800 für die Frauen war die Münchner Synagoge die drittgrößte in Deutschland, übertroffen nur von den Synagogen in Berlin und Breslau.

In seinem Buch "Synagogen und jüdische Friedhöfe in München" schreibt Wolfram Selig über die Zeit nach der Vollendung des neuen Gotteshauses: "Normalität schien nun einzukehren. Der größte Teil der Münchner Juden fühlte sich akzeptiert, glaubte, das lang erstrebte Ziel erreicht zu haben: als Deutsche - und zwar gute Deutsche - jüdischen Glaubens anerkannt zu sein." Doch der Schein trog. Gleichsam im Schatten der heiteren Kunststadt München gedieh der Antisemitismus, der in den völkischen und nationalistischen Bewegungen der Zwanzigerjahre mehr und mehr an Boden gewann. Im Nationalsozialismus schließlich waren sämtliche Dämme gebrochen, die die Barbarei noch zurückgehalten hatten.

Als die Israelitische Kultusgemeinde im Jahr 1937 den 50. Jahrestag der Errichtung der Hauptsynagoge beging, sagte Rabbiner Baerwald angesichts der katastrophalen Situation der Juden in Nazi-Deutschland: "Muss man den Vorwurf fürchten, wir hätten zwar eine Gelegenheit, aber keine Veranlassung ein Jubiläum zu feiern, wie man in anderen Zeiten es wohl tun konnte? Heute könne eine solche Feier, und wäre sie auch nur in den einfachsten Rahmen gespannt, lediglich wehmütige oder gar verbitterte Empfindungen auslösen." Die Synagoge, fuhr Baerwald fort, sei heute "das Denkmal einer Zeit (...), in der man unter verhältnismäßig glücklichen Umständen schaffen und wirken und voller Stolz und Genugtuung über das Erreichte sein konnte".

Kundgebung

Zum Zeichen der Solidarität mit den Jüdinnen und Juden in München ruft OB Dieter Reiter zur Kundgebung "Zusammenstehen gegen Antisemitismus" am Freitag, 8. Juni, 14.30 Uhr, auf dem St.-Jakobs-Platz auf. Den Aufruf unterstützen viele Institutionen und Organisationen, darunter der DGB, die christlichen Kirchen, das Münchner Forum für Islam oder der Verein "Lichterkette". Die Kundgebung dient auch dem Gedenken an die Zerstörung der Hauptsynagoge durch die Nazis.wg

Am 7. Juni 1938 besucht Adolf Hitler eine Veranstaltung im Künstlerhaus, das nahe der Synagoge steht. Unmittelbar danach ordnet er den Abriss des jüdischen Gotteshaus an. Alfred Neumeyer schreibt rückblickend: "Am 8. Juni 1938 wurde ich zum Ministerium des Inneren vorgeladen (...) Es wurde mir von den Ministerialreferenten eröffnet, dass die Synagoge als Verkehrshindernis am nächsten Tage abgetragen werden müsse." Die Kultusgemeinde wird gezwungen, das Grundstück für lächerliche 100 000 Mark an die Stadt München zu verkaufen, die sich sofort daran macht, den Führerbefehl umzusetzen.

Schon am folgenden Tag rücken die Abbrucharbeiter der Firma Leonard Moll an, die sich sputen müssen, denn bis zum 8. Juli, dem "Tag der Deutschen Kunst", soll das Zerstörungswerk vollendet sein. So fordert es der Führer. In seinem Angebot hatte Leonard Moll geschrieben, er könne nicht versprechen, den Termin einzuhalten, weil "ich ein sehr hartes und gutes Mauerwerk vermute". Aber, fügte der Bauunternehmer hinzu: "Ich werde selbstverständlich meine ganze Kraft einsetzen, durch zweischichtige Arbeit wenn irgend möglich das Ziel zu erreichen. Heil Hitler."

Moll hat nicht zu viel versprochen. Noch vor dem 8. Juli ist die Synagoge abgetragen, wofür die Baufirma 200 000 Mark der Stadt in Rechnung stellt. Das NS-Blatt Der Stürmer jubelt in fetten Lettern: "Ein Schandfleck verschwindet." Es ist die erste Synagoge in Deutschland, die der Nazi-Barbarei zum Opfer fällt. So liegt die Vermutung nahe, dass die nationalsozialistische Führung auch testen wollte, wie die Bevölkerung auf einen derartigen Akt reagiert. Man wird zufrieden gewesen sein: Zu nennenswerten Protesten außerhalb der jüdischen Gemeinde, gar zu einem Aufschrei kam es in München nicht.

Alfred Neumeyer musste ohnmächtig zusehen, wie das Gotteshaus, der Stolz seiner jüdischen Gemeinde, vernichtet wurde: "Ich stand mit unserem Oberkantor, Prof. Kirschner, auf der Treppe des Verwaltungsgebäudes und schaute auf das Werk der Zerstörung. An unser Ohr tönte der Ruf: 'Achtung, es wird gesprengt.' Dem greisen Mann, in dessen Person der Gottesdienst in seiner edelsten Form verkörpert war, stürzten die Tränen aus den Augen (...) So fiel das Gotteshaus nach 50-jährigem Bestand, eine Zierde der Stadt, ein Opfer fanatischen Hasses."

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