Zeitgeschichte:Flucht ins Feindesland

Zeitgeschichte: Oftmals landeten die Flüchtlinge aus München im Internierungslager Ferramonti di Tarsia in Kalabrien.

Oftmals landeten die Flüchtlinge aus München im Internierungslager Ferramonti di Tarsia in Kalabrien.

(Foto: OH)

Während der Nazizeit emigrierten viele Münchner Juden nach Italien - obwohl das Land ebenfalls von Faschisten regiert wurde.

Von Jakob Wetzel

Auf die Italiener hat Max Hirschberg nichts kommen lassen. Der jüdische Anwalt war 1934 vor den Nationalsozialisten aus München nach Mailand geflohen, ausgerechnet in das faschistische Italien Benito Mussolinis. Doch die Menschen dort seien "völlig immun gegen Chauvinismus, Militarismus und Antisemitismus" gewesen, und die Behörden immerhin "weniger bestialisch" als die Deutschen, erinnerte sich Hirschberg später.

Dass er als Jude in Mailand genauso bespitzelt wurde wie in München, dass italienische Polizisten jüdische Flüchtlinge über die Grenzen trieben, dass auch Italien antisemitische Rassegesetze verabschiedete, Juden etwa aus Schulen, Universitäten und vielen Berufen ausschloss, dass Juden in Lager gesperrt wurden, schien Hirschberg im Rückblick alles nicht so gravierend. Nichts war so schlimm wie die Nazis.

Max Hirschberg war einer von knapp 400 jüdischen Münchnern, die in der Nazizeit Deutschland verließen und nach Italien gingen - obwohl das Land schon seit 1922 unter der Fuchtel der Faschisten stand und später einer der wichtigsten Verbündeten des Nazi-Reichs war. Tatsächlich war das Land eines der gefragtesten Fluchtziele der Münchner: Mehr Menschen flohen nur in die USA, nach Großbritannien, nach Palästina und in die Schweiz.

Susanna Schrafstetter lenkt jetzt den Blick auf diesen wenig bekannten Teil der Geschichte. Die Historikerin, die aus dem Münchner Umland stammt und heute an der Universität von Vermont lehrt, hat die Lebenswege von Münchner Italien-Flüchtlingen zusammengetragen. Erste Ergebnisse hat sie kürzlich in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte  publiziert.

Die Entscheidung für Italien fiel demnach oft aus Pragmatismus: Die Reise in den Süden war vergleichsweise günstig und man brauchte kein Visum. Wer sich in München unmittelbar bedroht fühlte, der konnte kurzfristig über die Alpen. Und viele sahen Italien dabei als Zwischenstation, um über das Mittelmeer zum Beispiel nach Palästina zu fliehen. Freilich gelang das nicht allen; mindestens 103 Münchner blieben bis Kriegsende in Italien, 19 von ihnen wurden ermordet. Sieben weitere wurden deportiert, überlebten aber.

Schrafstetter erzählt von diesen Schicksalen aus der Sicht einzelner Münchner. Max Hirschberg etwa hatte Glück: Er floh früh aus München und entkam. Der Jurist war Sozialdemokrat und hatte vor Gericht kritische Journalisten und Gegner der Nazis verteidigt. Nach deren Machtübernahme 1933 wurde Hirschberg vorübergehend inhaftiert.

Danach überzeugten ihn Freunde davon, dass er in Gefahr war und das Land verlassen sollte. Im April 1934 fuhr Hirschberg also mit Frau und Sohn nach Mailand; dort arbeitete er bei einem antifaschistischen Rechtsanwalt und beriet andere deutsche Juden, die auswandern wollten. Als 1938 auch Italien antisemitische Rassegesetze erließ, bestieg er mit seiner Familie ein Schiff nach New York.

Mi 40 Reichsmark nach Italien

Thea Obarzanek dagegen war spät dran. Ihr Vater Samuel war Schneider. Die vierköpfige Familie wollte erst in die USA auswandern, dann nach Australien oder nach Shanghai, doch nirgends waren sie willkommen. Also setzten sich die Obarzaneks im Juni 1939 mit 40 Reichsmark und vier Koffern in einen überfüllten Zug nach Mailand.

Dort lebten sie in einem Zimmer mit Kochgelegenheit und schlugen sich mit Schwarzarbeit durch. In Sicherheit waren sie nicht. Als das Leben in Mailand für Juden zu gefährlich wurde, schickte sie ihre Vermieterin in ein abgelegenes Bergdorf, wo der Pfarrer Helfer organisierte. Doch ein anderer Flüchtling war unvorsichtig, die Familie wurde entdeckt, von italienischen Polizisten verhaftet und deportiert.

Ähnlich erging es am Ende Simon Landmann. Dabei ließ sich seine Flucht anfangs noch gut an. Landmann verließ München mit seiner Familie im April 1940. Im Mai bestieg er in Triest ein Schiff, das ihn zusammen mit anderen Flüchtlingen nach Libyen brachte, das damals von Italien besetzt war. Von dort sollte es weitergehen nach Palästina oder Australien.

Doch Landmanns Reisegruppe hing in Bengasi fest. Dort wurden sie von den einheimischen Juden herzlich aufgenommen; mehrere Gastgeber boten gar an, ihre minderjährigen Kinder mit denen der Flüchtlinge zu verloben.

Das Schiff aber, das die Flüchtlinge in Bengasi aufnehmen und fortbringen sollte, kam nie. Dafür rückte die afrikanische Front näher. Und schließlich brachten die italienischen Behörden die Flüchtlinge zurück nach Europa. Simon Landmann landete im Internierungslager Ferramonti di Tarsia in Kalabrien.

Jun 3 2015 Calabria Italy a view of the camp today Ferramonti Tarsia Cs Ferramonti di Tars

So sieht das ehemalige Lager inzwischen aus.

(Foto: Imago)

Die Italiener nannten dieses Lager ein "campo di concentramento"; mit seinen deutschen Namensvettern aber war Ferramonti nicht zu vergleichen. Es hatte eine Synagoge, eine Schule und eine Bibliothek, sogar einen Kindergarten und ein Theater. Trotzdem gab es Schmutz und Hunger, es grassierten Krankheiten, und die Internierten litten unter dem allgegenwärtigen Ungeziefer und unter Langeweile. Im September 1943 wurde das Lager von der britischen Armee befreit.

Für Landmann war der Schrecken indes noch nicht vorüber. Nach dem Waffenstillstand zwischen Italien und den Alliierten 1943 besetzten deutsche Verbände den Norden des Landes - und sie trieben umgehend die einheimischen und hierher geflohenen Juden zusammen. Landmann und seine Familie wurden in der Nähe von Grosseto in der Toskana ein weiteres Mal verhaftet und inhaftiert. Am 30. Januar 1944 verließ der erste Transport Italien in Richtung Auschwitz. Mit diesem Zug fuhr auch Simon Landmann in den Tod.

Thea Obarzanek hingegen hat überlebt. Mit ihrer Mutter war sie am Ende im Konzentrationslager Groß-Rosen eingesperrt gewesen. Nach dem Krieg emigrierten die beiden zunächst in das junge Israel, später gingen sie in die USA. Als Erstes aber kehrten sie in jenes norditalienische Bergdorf zurück, in dem die Familie zuletzt zusammengelebt hatte. Sie hofften, dass auch ihr Vater Samuel und ihr Bruder Emanuel überlebt hatten und dorthin zurückkehren würden. Sie warteten vergeblich.

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