Jonas Geißler schlägt den Kleinhesseloher See vor. Auf seinem Weg von zu Hause im Norden Münchens in die Innenstadt radle er hier oft vorbei. Er liebe den Englischen Garten, das viele Grün, die hohen Bäume, Natur sei ihm wichtig, sagt er am Telefon. Unweit des Sees, auf einer der Parkbänke, sitzt man sich dann gegenüber. Beide in Jeans und winddichten Jacken, Jonas Geißler, 44, mit einer roten Kappe auf dem Kopf.
Als er kommt, reibt er sich erst einmal die Finger sauber. Unterwegs ist ihm die Fahrradkette rausgesprungen. Sie wieder aufs Zahnrad zu klemmen ist nicht ohne Schmierölflecke möglich. Geißler erscheint dennoch pünktlich und entspannt zum vereinbarten Treffpunkt. Er ist Herr seiner Zeit, das wird in der ersten Sekunde der Begegnung deutlich. Vergeblich sucht man eine Armbanduhr an seinem Handgelenk. Geißler kennt diesen suchenden Blick. Er lacht. Und sagt dann, dass er schließlich wie fast jeder Mensch ein Handy habe. Und sein Zeitgefühl.
Den Umgang mit der Zeit, die den einen (meist älteren Menschen) zu schnell, den anderen (in der Regel den Jungen) zu langsam zu vergehen scheint, hat Jonas Geißler zum Beruf gemacht. Er hat Soziologie und Medien-Management studiert, arbeitet als Berater und Coach, gibt Workshops, hält Vorträge. Meist geht es darum, was wir mit unserem Potential anstellen können, wie wir die Zeit, die wir haben, bestmöglich nutzen - fern von der Zeit-ist-Geld-Mentalität. Auf seiner Webseite listet Geißler knapp hundert Substantiv-Verb-Verbindungen auf, zur Erläuterung, was seine Arbeit bewirken könne: von "Austausch fördern" über "Regeln verändern" und "Zwischentöne hören" zu "Sinn machen".

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Jonas Geißler ist ein geübter Redner, der fast norddeutsch klingt, obwohl er in München geboren und aufgewachsen ist. Seine Vorträge sowie seine Antworten untermauert er immer wieder mit Gedanken anderer. Eines seiner Lieblingszitate ist von Konfuzius: "Wir haben zwei Leben, das zweite beginnt in dem Moment, wenn wir begreifen, dass wir nur eines haben." Auch Harald Lesch zitiert er: "Es ist erstaunlich, wie viel Unheil durch Nichtstun schon verhindert wurde."
Das Gefühl für die Zeit hat Jonas Geißler seit seiner Kindheit trainiert. Wahrscheinlich hat man als Sohn eines Zeitforscher nur zwei Möglichkeiten: die Zeit im wahrsten Sinne totzuschlagen und das Thema zu ignorieren oder die Welle zu reiten und sich die Zeit für die Zeit zu nehmen. Jonas Geißler hat sich für Letzteres entschieden. Aus Passion, wie es scheint, ganz so wie sein Vater Karlheinz Geißler. Der war bis 2006 Professor für Wirtschafts- und Sozialpädagogik an der Universität der Bundeswehr und einer der renommiertesten und bekanntesten deutschen Zeitforscher. Am 9. November vergangenen Jahres ist er gestorben.

Der Verlust für den Sohn ist spürbar groß. Seine Stimme wird leiser, er antwortet langsamer, aber er weicht den Fragen nach seinem Vater nicht aus. Der Schmerz der Trauer komme in Wellen, sagt Geißler. Er sei seinem Vater dankbar, dass er in seinen Schriften Trost mitgeliefert habe. Über den Anfang und über den Schluss, über die Zeit, die ja quasi zwischen Anfang und Schluss liege. Was sein Vater geschrieben habe, helfe ihm sehr. Seine besondere Art, mit dem Thema Endlichkeit umzugehen, "weil er selbst dieses existenzielle Thema auch mit einem Schmunzeln angegangen ist".
Vater und Sohn haben mehrfach als Autoren zusammengearbeitet. "Alles eine Frage der Zeit" heißt ihr letztes gemeinsames Buch, das die beiden mit Co-Autor Harald Lesch herausbrachten (Oekom Verlag). Es erschien während der Corona-Zeit. Der Anspruch ist hoch, es soll aufrütteln, die Sicht auf die Welt, das eigene Leben und Handeln verändern. Jeder Autor bearbeitet das Thema Zeit auf seine Weise, ihr Ziel aber ist gleich: nachhaltiger zu leben, um letztlich auf diesem Planeten zu überleben. Karlheinz Geißler etwa erklärt das Phänomen Zeit eher grundsätzlich ("Die Zeit ist immer da, ein Leben außerhalb des Zeitlichen gibt es nicht"). Lesch, Astrophysiker, LMU-Professor und Moderator von Fernsehsendungen wie "Leschs Kosmos" oder "Terra X", mahnt ("Die Vielfalt des Lebens in allen seinen Formen schrumpft mit einem ungeheuren Tempo"). Jonas Geißler, der jüngste des Trios, gibt Ausblicke und Handlungsanweisungen. Er ruft Politiker und Unternehmen auf, ihre Absichten zu überdenken ("Ziel muss eine Mäßigung von Wachstum und Gewinnabsichten sein"), und jeden einzelnen fordert er auf, sich von Mustern und Werten zu trennen, die für das Gefühl sorgen, keine Zeit zu haben.
Man könnte stundenlang mit Jonas Geißler auf der Parkbank im Englischen Garten sitzen, ihm zuhören und dabei den Enteneltern zuschauen, wie sie ihren Nachwuchs spazierenführen. Auch Geißler hat Kinder. Was gibt er seinen Töchtern mit? So viel quality time wie möglich und möglichst viele schöne Erlebnisse. Mit seiner Frau und "den Kids" habe er eine Backpacking-Weltreise gemacht. Und sie haben ein halbes Jahr in England gewohnt, um die Erfahrung zu machen, als Familie auch woanders klarzukommen. Als es frisch wird am Seeufer, steigt Geißler wieder auf sein Rad und fährt zurück durch den Park.