Kritik:Die ganzen schönen Kleinigkeiten

Kritik: Isabell Antonia Höckel singt "Wunder gibt es immer wieder", und keiner will da widersprechen.

Isabell Antonia Höckel singt "Wunder gibt es immer wieder", und keiner will da widersprechen.

(Foto: Adrienne Meister)

"Jetzt oder nie" - eine fetzige Lieder-Theater-Revue im Marstall feiert das Leben in fast allen Facetten.

Von Christian Jooß-Bernau

Rückblickend wird man sagen: Man hat das Leben verbracht zwischen Konferenzraum, Wartebereich, Telefon und dem Kopierer-Eck, in Sichtweite eines Getränkeautomaten, auf dem zur Hebung der allgemeinen Laune ein Bild von Katja Ebstein klebte. Auf der Bühne von Lisa Käppler ist das Leben zwar erst einmal eine Testversion, kommt einem aber schon ziemlich wahr vor. So wahr wie die 16 Songs, die der Grund sind, warum es diesen Theaterabend "Jetzt oder nie" im Marstall gibt.

Residenztheater-Ensemblemitglied Max Rothbart hat erstmals Regie geführt und gibt, ganz Schauspielkollege, jedem die Möglichkeit singend zu großer Form aufzulaufen. Handlung? Gibt es auch. Begrüßt wird das Publikum von einer KI. So einem Ding, von dem alle reden, das aber keiner je gesehen hat. Hier ist es einer dieser großen Büro-Kopierer, der monoton digital sprechen kann und seine Antworten gerne als Fax ausdruckt - was recht genau den aktuellen Stand der deutschen Digitalisierung beschreibt.

Das Publikum meditiert sich zu Beginn in einen pränatalen Zustand glücklichen Nichtwissens, bekommt in eineinhalb fetzigen Stunden das Leben in Songs serviert und kann entscheiden, ob es geboren werden will - oder lieber nicht. Und schon geht es als Ensemblenummer mit dem rätselhaft weisen "Wenn ein Mensch lebt" von den Puhdys los, das man mit seinem Text von Ulrich Plenzdorf und der Verwurstung von Pachelbels Basslinie viel zu lange nicht gehört hat.

Florian Paul, der mit seiner Kapelle der Letzten Hoffnung hier die Musik macht, arbeitet zum ersten Mal am Residenztheater. Es klingt nach dem Beginn einer schönen Beziehung. Die Band ist immer schon da, wo die Sänger sie brauchen, im Sound als Einheit ohne Eitelkeit agierend und dabei voller verrückter Ideen. Wie der, "Wunder gibt es immer wieder", das Isabell Antonia Höckel mit dem Glamour der großen Revue singt, zu unterlegen mit einer Groove-Einheit von E-Bass und Bass-Saxofon.

Außerhalb ihrer Songs agieren die Schauspieler mit dem Charme sprechender Service-Roboter, die - Glück, Verzweiflung, Liebe, Einsamkeit - Schlagwort für Schlagwort anmoderieren. In Kombination mit Kostümchen und Anzügen die nicht den neuesten Schnitt haben, fühlt sich das oft so heimelig an wie Ilja Richters Disco. Vor allem, weil man auch gerne abgegrabbelte Teilchen aus der Humorkiste zieht: "Bei mir wird Vorsorge groß geschrieben." "Wird Vorsorge nicht immer groß geschrieben?"

Aber gerade vor dem Hintergrund des flachen Witzes, wird ein Song so richtig plastisch. Juliane Köhler reißt das Publikum um mit ihrer Präsenz in der Nina-Hagen-Nummer "Hatschi Waldera", die so albern ist, das sie verblüfft: Es ist möglich zu niesen und gleichzeitig zu lieben und dabei im Gesamtbild erstaunlich aggressiv rüberzukommen. Bandleader Florian Paul bleibt Musiker ohne Schauspiel und kommt so in Reinhard Meys "Schade, dass Du gehen musst", dem Tod nah: nur diese fasseicherne Stimme und die Nylonsaiten seiner Gitarre. Johannes Nussbaum kann bei Konstantin Wecker blutig überdrehen und bei den Ärzten den Moralischen kriegen. Das Leben, es ist die Summe dieser ganzen Kleinigkeiten und kleinen Irrsinnigkeiten. So scheint es.

Als Vincent Glander "Mercie Chérie" mit Abgründigkeit im falschen Pathos zelebriert, ist plötzlich ein Sprung in der Platte, und sie stürzt rauchend ab - die KI. Und mit ihr alle Sprech-Maschinen-Schauspieler. Tiefste Ratlosigkeit, bis einer den Stecker zieht. Und dann - ganz analog die Erkenntnis: "Irgendwo auf der Welt, gibt's ein kleines bisschen Glück". Es muss so sein. Lieder lügen nicht.

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