Süddeutsche Zeitung

Jesiden in München:"Wir wollen nur leben"

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Angehörige der jesidischen Religionsgemeinschaft leben in der ganzen Welt, 4000 von ihnen in München. Unter ihnen herrscht nun vor allem ein Gefühl: die Ohnmacht, ihren verfolgten Verwandten und Freunden im Irak nicht helfen zu können.

Von Tilman Schröter

Kasim S. schläft schlecht in diesen Tagen. Sein Gesicht ist eingefallen, er sieht müde aus. Er macht sich große Sorgen um seine Familie. "Meine Mutter ist verdurstet, meine sieben Geschwister sind in einer Stadt im Nordirak. Aber gerade wäre es besser für sie, wenn sie auch sterben." Kein Wasser hätten sie zurzeit und auch kein Essen. Kasim S. ist Jeside, Angehöriger einer religiösen Minderheit im Nordirak, die derzeit brutal von Terroristen des "Islamischen Staates" (IS) verfolgt wird.

40 Menschen aus S.' Familie wurden gefangen genommen. Er selbst lebt seit zwei Jahren in München und arbeitet bei einem Pizza-Bäcker. Er unterstützt die Familie im Irak mit dem Geld, das er hier verdient. Gerade jedoch wünscht er sich, dass sie hierherkommen und in Sicherheit bei ihm sind, er versucht über die Ausländerbehörde etwas zu erreichen. "Unsere Religion kann nicht im Umfeld der islamischen Religion überleben, das ist meine Meinung."

4000 Jesiden in München

In Deutschland leben zwischen 50 000 und 80 000 Jesiden, zirka 800 000 gibt es auf der Welt. Auch hier in München ist die Gemeinschaft der Jesiden präsent, etwa 4000 von ihnen leben hier. Sie arbeiten als Busfahrer oder Küchenhilfe, studieren und gehen zur Schule.

Ein Treffen im "Eine-Welt-Haus": Etwa 20 jesidische Männer stehen um die Tische herum und sind aufgeregt. Sie wollen reden. Über das, was zur Zeit mit ihren Familien passiert. Und was jetzt für sie das Beste wäre. Sie erzählen von Menschen, die in die Berge fliehen müssen, von toten Kindern, von entführten Frauen, die irgendwohin nach Arabien verkauft werden. Fast alle Anwesenden haben Verwandte oder Bekannte im Irak, es gibt kaum ein anderes Thema als deren Situation.

Der Alltag in München fällt schwer: Alle verfolgen aus sicherer Entfernung die Nachrichten, können ihren Angehörigen und Freunden aber nicht helfen. Mehrmals am Tag rufen sie im Nordirak an, um sich über das Schicksal ihrer Familien zu informieren. Durch das brutale Vorgehen des IS mussten Tausende Jesiden fliehen oder wurden ermordet.

Langes Warten auf zugesagte Hilfe

Auch die Familie von Kamal J. ist auf der Flucht. Er ist seit 2008 in Deutschland und arbeitet als Busfahrer. Seine Familie - Mutter, Vater und Geschwister - hat er seit sechs Jahren nicht mehr gesehen. Aber er telefoniert ständig mit ihr. "IS kam in mein Dorf und hat alles zerstört, auch unsere heiligen Gräber." Drei Tage lang hat er nichts von seiner Familie gehört, dann endlich bekam er wieder Kontakt zu ihr. "Ich weiß nicht, wie sie weiterleben sollen."

Er fragt sich, wo die von Deutschland zugesicherte Unterstützung bleibt. Er sei zwar sehr dankbar für die Hilfe, aber er versteht nicht, warum alles so lange dauert. "Wo ist das Geld?", fragt J. Zum Schluss sagt er: "Wir bitten die ganze Welt, uns zu helfen, viele wollen raus aus dem Irak." Oft hört man diese Sätze im Gespräch mit Jesiden: Hauptsache weg aus dem Irak, weg von den Muslimen. Wir können da nicht überleben. Doch woher kommt diese vermeintliche Ablehnung der jesidischen Gemeinschaft durch die Muslime?

"Tatsache ist, dass die Jesiden immer wieder verfolgt wurden, weil sie nicht in die Kategorie der 'Schriftbesitzer' passten. Sie waren in der Geschichte häufig quasi vogelfrei", sagt Patrick Franke, Islamwissenschaftler an der Universität Bamberg. Tatsächlich werden die religiösen Inhalte der jesidischen Religion vor allem mündlich übermittelt, einen zentralen Text im Sinne der Bibel oder des Korans gibt es nicht. "Die Jesiden sind aber gerade in einer Phase, in der sie anfangen, vieles zu verschriftlichen", sagt Franke. Jenseits aller historisch-kritischen Aufarbeitung des Konflikts empfindet er das Vorgehen gegen die religiösen Minderheiten im Irak als eine Unverschämtheit. "Das ist eine Schande für den Islam. Ein Großteil der IS-Terroristen hat ursprünglich auch gar nichts mit der Region im Nordirak zu tun", so Franke.

Im Nordirak haben die Jesiden derzeit ihre Heimat. Die meisten Jesiden gehören dabei zum Volk der Kurden, die mehrheitlich Muslime sind. Neben Arabisch sprechen viele Jesiden das nordkurdische Kurmandschi. Doch zur Zeit ist auch das Verhältnis zwischen Jesiden und Kurden angespannt, wie einige in München erzählen.

Misstrauen gegen die Kurden

"Wir betrachten die kurdische Hilfe derzeit misstrauisch", sagt Benan Shaheen von der Ezidischen Akademie Bayern. "Sie haben uns in den schwersten Momenten im Stich gelassen." Sie bezieht sich dabei auf zahlreiche Berichte des kampflosen Rückzugs der kurdischen Peschmerga-Kämpfer im Nordirak, die Teile der Jesiden schutzlos zurückgelassen haben sollen. Bei einer Pressekonferenz des Bayerischen Sozialministeriums sitzt Benan Shaheen auf dem Podium, neben ihr der Vorsitzende der Akademie, Bahjat Seliem. Thema der Veranstaltung: Die Situation der Jesiden im Irak. Seliem sagt: "Es gibt auch Kurden, die mit uns kämpfen und Flüchtlinge aufnehmen. Es gibt auch Kurden die helfen."

Kurden wie zum Beispiel Facher Sindi. Er ist Vorsitzender des kurdischen Kulturvereins in München. Er selbst ist Moslem. Auch ihn macht das Schicksal der Jesiden im Irak betroffen. Er versucht deshalb zur Zeit eine Delegation von freiwilligen Ärzten zusammenzustellen und Medikamente zu besorgen, um im Irak zu helfen. "Wir haben auch schon einige Zusagen, brauchen aber noch weitere Unterstützung", sagt er. Um in ihrer Heimat bleiben zu können, sollten die Jesiden kämpfen. "Es ist keine Lösung, dass alle nach Europa kommen." Das denken auch einige Jesiden selbst, obwohl die Berichte aus der Heimat schrecklich sind.

Die Kultur wird zerstört

Akademie-Mitglied Benan Shaheen aber ist besorgt um ihre Gemeinschaft. "Unsere Kultur wird zerstört, unsere Angehörigen müssen von zu Hause fliehen." Die Gewalt, die den Jesiden entgegenschlägt, hat einigen die Hoffnung auf eine Zukunft in ihrer Heimat zerstört. "Die Jesiden im Irak sind nur von Muslimen umgeben. Man wird hier nicht als Mensch, sondern als etwas Niederes gesehen", erzählt Shaheen. "Die Menschen im Irak sind bereit alles zurückzulassen, um zu überleben."

Akademie-Vorsitzender Seliem erklärt, er sei dankbar für die Aufmerksamkeit, die den Jesiden entgegengebracht wird. "Deutschland ist mein erstes Land. Ich hoffe, dass die Leute hier Aufenthalt und Asyl bekommen", sagt er. Aber grundsätzlich sei es egal, wo seine Gemeinschaft sich ansiedelt. "Hauptsache nicht im Nahen Osten."

Bei einem zweiten Treffen mit Jesiden im Eine-Welt-Haus werden Fotos mitgebracht, die zu grausam sind, um sie zu drucken. Massenhinrichtungen und verletzte Kinder sind darauf zu sehen. Man redet lange in der Muttersprache über die Nachrichten der letzten Tage, auch über die eigene Geschichte wird gesprochen. Doch alle Analysen und Gespräche werden hier in einem Satz zusammengefasst, den die Jesiden dieser Tage nicht zum ersten Mal sagen: "Wir wollen nur leben."

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Quelle:
SZ vom 27.08.2014
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