Jennifer Nitsch:Ein Stern, der verglühte

Vor einem Jahr stürzte die Schauspielerin in den Tod: Wie aus dem starken Mädchen Jennifer Nitsch eine traurige Frau wurde.

Jan Grossarth

Mario Adorf, Heiner Lauterbach, Veronica Ferres und so fort. "Da Angelo" ist einer dieser Schwabinger Antipasti-Treffs, die überladen sind mit Fotos ihrer prominenten Kunden wie Jagdhütten mit Hirschgeweihen. Ein Bild jedoch ist in den Hintergrund gerückt, liegt auf dem Klavier, verdeckt von Strohhüten und Krimskrams.

Es zeigt die strahlende Jennifer Nitsch an einem ihrer fröhlichen Abende. "Ein, zwei Wein" habe sie hier gern getrunken, die Nachbarin und Stammkundin, erinnert sich ihr damaliger Lieblingsitaliener Angelo Monti. Ein fröhliches Mädchen, ein tragischer Unfall am 13. Juni 2004, dem sommerlichen Sonntag, als Jennifer Nitsch, 37 Jahre alt, aus dem Fenster ihrer Dachwohnung in der Franz-Joseph-Straße stürzte.

Stochern nach Sensationen

Fröhliches Mädchen, tragischer Unfall. Das sagen sie hier im feinen Film-Schwabing so unentwegt, dass man es gern glauben möchte. Wären da nicht diese Berichte des Boulevards gewesen: von Depressionen, Psychiatrie, Autoaggressionen, Kokainexzessen. Für Bild ist nach dem Tod rund ein Dutzend Reporter Tage damit beschäftigt, im Umfeld der toten Schauspieler nach Sensationen zu stochern ("Taskforce", nennen sie das intern). Bunte will sogar Nitschs Kokaindealer interviewt haben.

Bild gelangt, ein vergleichbarer Fall ist der Münchner Staatsanwaltschaft nicht bekannt, noch ein halbes Jahr nach dem Tod an die 167 Seiten dicke Ermittlungsakte. Die gab anscheinend einer aus der Familie Nitsch selbst aus der Hand, "da ist uns jemand auf den Leim gegangen", lacht der Reporter Malte Biss geheimnisvoll. Bild druckt daraus intime Auszüge wie einen psychologischen Fragebogen, den Jennifer Nitsch im Vertrauen auf die ärztliche Schweigepflicht ausgefüllt hatte.

Ein Stern, der verglühte

Vielen aus der Filmbranche ist wegen solcherlei Methoden auch ein Jahr nach dem tragischen Todessturz die Lust vergangen, mit der Presse über "Jenny" zu reden. Selbst Nitschs langjährige Agentin Carla Rehm blockt am Telefon schneller ab, als die Frage gestellt ist: "Weil wir uns in den Wochen nach dem Tod alle so geärgert haben. Da wurden ständig Pseudomenschen zitiert, angebliche Freunde, die keine Ahnung haben, alles falsch!" Wenn Schwabing heute noch über Jenny spricht, dann meist merkwürdig verklärt. Doch ein Engel lässt sich aus Jennifer Nitsch nicht mehr machen.

Schwabing und die Schuld

Eine markant-hübsche Schauspielerin, geheimnisvoll, erfolgreich und doch selbstmörderisch exzessiv - diese Romy-Mischung tat ihre Wirkung, und nach dem Tod war kaum Platz für Worte über den faszinierenden Aufstieg eines deutschen Stars: Der umtriebige Vater bekommt früh das Sorgerecht, während die junge Mutter lieber selber leben will, Jennifer wächst in einem Bonner Internat auf und ahnt nichts von ihrem schauspielerischen Talent: In der Theater-AG spielt sie nie, erinnert sich ihr alter Schulleiter Klaus-Otto Kühne.

Das ehrgeizige Mädchen mit Dauerwelle und Jeanskluft geht Ende der 80er Jahre als Kostümbildnerin nach München, und hier geht alles ganz schnell: Ein Satz im "Forsthaus Falkenau", einer in "Der Alte", schon hat Regisseur Helmut Ashley ihr Talent entdeckt, ohne solide Ausbildung spielt sich Jennifer Nitsch von 1991 an ("Allein unter Frauen") in die Kinos und zur besten Sendezeit ins Fernsehen. Drei Jahre später erhält sie den Grimme-Preis, die Jury lobt "den Funken Besonderheit, den niemand lehren konnte", 1995 dann "Der Schattenmann". Der Erfolg kommt, doch Jennys Blick wird immer trauriger.

Exzessive Seiten

Jennifer Nitschs Karriere steht nichts im Wege - außer Jennifer Nitsch. Der Erfolg ist Nährboden für ihre exzessive Seite. Glaubt man Dieter Wedel, kokst die junge Schauspielerin, wie "andere Schnupftabak nehmen" (wobei in der Filmbranche Kokain wohl gemeinhin geschätzter ist als Snuff).

1998 will ihr Vater Wolfgang Nitsch sie nachdringlich zu einer Schauspielpause überreden: Doch Jenny will keine Pause, 1998 übernimmt sie schon wieder sieben Fernsehhauptrollen. "Wir hatten zwar ein enges und liebevolles Verhältnis", sagt der Vater im Sessel eines Reethauses in St. Peter-Ording, wo Jennifer viele Kindheitsurlaube verbracht hat. "Doch merkwürdigerweise ist sie mir in dieser Beziehung nie gefolgt. Sie war so ungeheuer sensibel, gepaart mit dieser absoluten Robustheit", erinnert sich der gezeichnete Mann in einem Fernsehporträt, das in der ARD ausgestrahlt wird.

Ein Stern, der verglühte

Die Schauspielerei ist wie eine Droge. Als kesse Ermittlerin, freche Emanze oder aufrichtige Kinderanwältin bekommt Jennifer Nitsch den Applaus und die Anerkennung, die sie privat vergebens sucht. "Irgendwann musste ein Bruch in Jennys Leben passieren, das war klar", sagt ihr alter Schauspiellehrer Robert Giggenbach.

Dass dieser Bruch so kommt wie am 13. Juni, mussten einige Vertraute befürchtet haben. "Logisch, dass das in München niemand sagt", findet eine Schauspiellehrerin, "die haben doch alle mit ihr in den Kneipen gesessen."

Mehr als drei Promille Blutalkohol beim Sturz, Spuren von Kokain im Haar, Oberstaatsanwalt Anton Winkler spricht von "erheblicher Gewöhnung" an Alkohol. Da die Bekannten und Kollegen des Fernsehstars dabei offenbar über Jahre hinweg zugesehen haben, hat ihr Vater Film-Schwabing und ihren "falschen Freunden" immer wieder eine Mitschuld am Tod der Tochter gegeben. "Wir haben ja alle zusammen gefeiert", kontert Jennifers gute Freundin Claudia Bobsin, "da müsste man ja nur ein schlechtes Gewissen haben, wenn man gewusst hätte: Die ist gefährdet. Das war sie aber nicht."

Gähnende Leere nach dem Dreh

Auf die Schuldfrage kann es keine Antwort geben. Zumal sich Nitsch mit der gleichen Dickköpfigkeit, mit der sie ihre Karriere in die Hand genommen hat, partout von niemandem hat beeinflussen lassen wollen. Jenny wird, erzählen ihre Kollegen, eigensinnig, launisch, beim Dreh eitler und autoritärer.

Vielleicht wäre es das Beste für Jennifer Nitsch gewesen, sie hätte immer Schauspielerin sein können, 365 Tage im Jahr, lebenslang. Der Drehtag hatte eine feste Struktur, an solchen Tagen soll sie stabil gewesen und aufgeblüht sein. Anders dann in München: "Diese gähnende Leere, die sie nach dem Dreh umfing, dann war alles zu Ende", sagt ihr Vater, "das ging Jenny an die Substanz."

Ein Stern, der verglühte

Zuletzt glich Jennifer Nitschs Leben wieder einmal einer Achterbahnfahrt: Gerade frisch verliebt, soll sie sich nach Worten einer Freundin Wochen vor ihrem Tod für ein Kind entschieden haben. Ein Ladenbesitzer aus der Franz-Joseph-Straße berichtet hingegen, Jennifer Nitsch habe sich zwei Tage vor dem Sturz "mit zittriger Stimme verabschiedet".

Dann die letzte Nacht: Wodka und Schmerztabletten, Restaurant "Kytaro" und Discothek "Max-Suite", schlaflos folgten am Mittag telefonische Streits mit Verwandten, die ihr große Angst gemacht haben müssen. Erst kündigt sie sich per Fax zu einem Besuch bei ihrem Vater an, kurz darauf steigt sie trotz Höhenangst auf das Wohnungsdach. Augenzeugen berichten später, sie sei auf der Dachrinne hin- und her spaziert und mit einer Vorwärtsrolle herabgestürzt.

Täglich Blumen ans Grab

Beerdigt wurde Jennifer Nitsch vergangenen September im Familiengrab in St.Peter-Ording, einem Ort, der für sie seit ihrer Kindheit Ausgleich zu einem verzehrenden Leben war. "Es war fast, als hätte es so sein sollen - wie das Aufleuchten eines Komets am Himmel, der dann verblasst ist", sagt der Vater, der über seine Tochter spricht wie über eine große Filmlegende.

Während in Schwabing ihre Fotos von den Wänden der Antipasti-Lokale verschwinden, legen die Menschen am Grab hinter dem Nordseedeich noch täglich Blumen nieder. Zum Todestag Jennifer Nitschs ein kleiner Trost für den Vater, dessen Tochter das Leben nicht ertragen hat.

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