Vor 20 Jahren gründete der Dirigent Daniel Grossmann das Jewish Chamber Orchestra Munich (JCOM), zunächst unter dem Namen Orchester Jakobsplatz München. Längst ist das Orchester fester Bestandteil des Kulturlebens der Stadt, die Konzerte zum jüdischen Neujahrfest im Prinzregententheater sind Kult. Seit dieser Saison ist das JCOM Orchester in Residence an den Münchner Kammerspielen. Dort findet am 14. Oktober im Schauspielhaus „Die Schlüssel von Toledo“ statt, ein Konzert mit der Musik der sephardischen Juden.
SZ: Herr Grossmann, was hatten Sie im Sinn, als Sie vor 20 Jahren das Orchester gründeten?
Daniel Grossmann: Ich bin ja in München aufgewachsen und fand es immer bedrückend, dass Judentum in München an so einem unscheinbaren Ort wie der Synagoge in der Reichenbachstraße vorkommt. Der Neubau der Jüdischen Gemeinde und der Synagoge am Jakobsplatz war letztlich der entscheidende Impulsgeber für die Gründung des Orchesters. Die jetzt kein unscheinbarer Ort mehr ist.
Jetzt nicht mehr, damals aber schon. Mein Ziel war, jüdische Kultur in den öffentlichen Raum zu bringen. Das, was wir heute erreicht haben, hatte ich damals aber überhaupt nicht im Sinn.
Jüdische Kultur in den öffentlichen Raum zu bringen, ist derzeit schwierig geworden. Wenn Sie vor einem Jahr ein Orchester gegründet hätten, hätten Sie genauso gehandelt?
Ich glaube ja. Gerade vor einem Jahr hätte ich genauso gehandelt, weil es jetzt wichtiger denn je finde, jüdische Kultur sichtbar zu machen. Ich kämpfe seit 20 Jahren um die Anerkennung, dass ich Deutscher bin und dass ich zunächst deutsche jüdische Kultur in den öffentlichen Raum bringe. Diese Verwechslung zwischen Judentum und Israel ist komplett dämlich; deshalb finde ich es jetzt gerade besonders wichtig.
Ist es wirklich wichtig, dass es um deutsch-jüdische Kultur geht?
Finde ich schon, weil die Perspektive, die ich auf jüdische Kultur habe, ist zunächst eine deutsche, im zweiten Schritt eine europäische Sicht. Die ist natürlich eine vollkommen andere als eine amerikanisch-jüdische Sicht auf die Kultur und nochmal sehr viel anders als eine israelisch-jüdische Sicht.
Momentan wird dennoch Judentum und Israel in einen Topf geworfen. Mit teils bizarren Folgen wie etwa der Ausladung von Lahav Shani, dem Dirigenten der Münchner Philharmoniker, vom Festival in Gent, weil er Israeli ist.
In dem Fall muss man sagen: Wenigstens ist er Israeli. Die Ausladung war natürlich katastrophal, aber immerhin ist er Israeli. Auch wir erleben das, und viele jüdische Künstlerinnen und Künstler erleben das, dass man gar nicht mehr eingeladen wird. Als Begründung dient dann meist der Sicherheitsaspekt, in der aufgeheizten Stimmung könne man keine jüdischen Veranstaltungen haben. Diese Argumentation kommt immer öfter.
Halten Sie die für vorgeschoben?
Nein, ich halte sie für verzagt und einer Stimmung nachgebend, der die Kultur auf keinen Fall nachgebend dürfte.
Hier an den Kammerspielen spielt das JCOM in einem sicheren Raum …
Ich hoffe doch, aber wer weiß das schon.
Gleichzeitig ist das Orchester viel auf Tour. Wurden dabei ganz konkrete Auftritte abgesagt?
Nein, abgesagt nicht. Aber es gab schon die Situation, dass wir an einem Tournee-Spielort ankamen und dort war eine Polizeistaffel mit Hunden, die den Raum abgesucht hat, was ich übertrieben fand, aber ok, das ist ja nur meine Einschätzung. Was immer häufiger vorkommt, ist, dass wir gar nicht eingeladen werden mit dem Argument, in der momentanen Situation geht das nicht in unserer Stadt, das hören wir in Deutschland, im Ausland, immer wieder.
Wenn Sie gezwungen wären, eine Aussage zur derzeitigen israelischen Politik zu machen, was würden Sie sagen?
Ich würde sagen, dass ich in Deutschland lebe, und ich mich als deutscher Jude dazu nicht äußern möchte. Israel ist ein Land für mich, über das ich viel zu wenig weiß, auch wenn ich dort Verwandte habe und fünf-, sechsmal dort war. Jede Äußerung, die ich machen würde, wäre anmaßend, weil ich dort nicht lebe. Ich weiß nicht, warum ich für oder über Israel sprechen sollte. Das ist ja auch das Problem im Moment: Dass sich alle bewegt fühlen, sich zu diesem Konflikt zu äußern. Und dies dann in einer extrem undifferenzierten Art und Weise tun, weil immer eine Perspektive eingenommen wird. Ich will aber nicht eine Perspektive einnehmen, dazu kenne ich mich zu wenig aus und bin zu weit weg.

Das kommende Konzert beschäftigt sich mit sephardischer Musik. Also mit Musik aus einer Zeit, Jahrhunderte zurück, in der Muslime und Juden in Spanien wunderbar zusammenlebten, bis durch die Reconquista, der endgültigen christlichen Machtübernahme 1492, die Juden vertrieben wurden. War das ein Grund für das Konzert, oder wird dieses in erster Linie durch die Musik bestimmt?
Das war absolut ein Grund. Der Gedanke beschäftigt mich aber viel länger als seit dem 7. Oktober 2023, seit vielen, vielen Jahren. Nicht nur, dass damals Muslime und Juden in Spanien zusammengelebt haben, sondern dass die Juden, die aus Spanien vertrieben wurden, hauptsächlich von muslimischen Ländern aufgenommen wurden. Das ist ja noch ein wesentlicher Schritt. Das erste Buch über sephardisches Judentum las ich vielleicht vor 15 Jahren. Seitdem beschäftigt mich das Thema.
Und musikalisch? Hierzulande denkt man bei jüdischer Musik meist als erstes an jiddische Lieder, Klezmer, ostjüdische Musik also.
Ich durchaus auch, vor allem wegen der ostjüdischen, kantoralen oder synagogalen Musik. Musikalisch interessiert mich aber, dass mit der sephardischen Musik sich eine Welt auftut, die für uns Juden und Nichtjuden in Zentraleuropa wahrscheinlich vollkommen überraschend ist. Die aber zum Beispiel für die jüdischen Menschen in Israel vollkommen vertraut ist. Nämlich eine Musik, die ganz stark von einem Idiom beeinflusst ist, das wir mit arabischer Musik assoziieren.
Also bestimmte Melismen …
… ganz genau, und auch vom Tonalen her. Das Ganze klingt eigentlich komplett nach orientalischer Musik, vereinfacht gesagt. Interessanterweise ist es auch so, dass man die Lieder, die an diesem Abend von einer jüdisch-sephardischen Gruppe aus Istanbul gesungen werden, so, aber mit anderem Text, in der türkischen Musik hört.
Heißt das auch, dass Sie damit den deutschen Juden hier etwas zeigen, was die vielleicht gar nicht kennen?
Unbedingt. Ich habe hier schon mit deutschen, jüdischen Menschen gesprochen, die mich gefragt haben, was sephardisches Judentum ist. Da dachte ich mir, das gibt es doch nicht, dass ihr das nicht wisst.
In der öffentlichen Wahrnehmung hier gilt aber jeder Jude als Experte fürs Judentum.
Absolut. Stimmt aber nicht.
Nochmal zurück zum Jubiläum: Erfolgte damals die Gründung des Orchesters mit Unterstützung der Gemeinde?
Erst einmal war es mein Gedanke. Die Gemeinde hat es zunächst unterstützt, aber das muss man fairnesshalber sagen, dass sie schnell gemerkt hat, dass das Ganze einen finanziellen Aufwand bedeutet, den die Gemeinde gar nicht leisten kann, weil es gesetzliche Auflagen gibt, was eine Kirchengemeinde quasi machen darf. Das ist schon in erster Linie auf das Leben einer religiösen Gemeinschaft konzentriert, die kann nicht auf einmal zigtausende für ein Orchester ausgeben. Da war relativ schnell klar, dass wir uns von der Gemeinde unabhängig machen müssen.
Wie ging das?
Ganz am Anfang haben wir es so organisiert, dass alle Beteiligten keine Gage bekommen haben, quasi alles auf Amateurniveau lief. Der erste entscheidende Schritt war 2007 eine Förderung durch die Kulturstiftung des Bundes; das war der erste Schritt dahin, dass wir Konzerte machen konnten, bei denen die Beteiligten auch bezahlt wurden. Relativ schnell bekamen wir dann auch eine institutionelle Unterstützung durch den Freistaat Bayern. Inzwischen haben wir verschiedene Geldgeber, beim kommenden Konzert etwa die EVZ-Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft, die kein Mensch kennt, aber die die größte deutsche Stiftung ist.
Bestand das Orchester anfangs rein aus jüdischen Musikerinnen und Musikern?
Nein. Das war für mich immer ganz entscheidend. Auch unser Publikum war von Anfang an zu mindestens 90 Prozent nicht-jüdisch. Na ja, vielleicht eher 95 bis 98 Prozent, was mich erstaunt hat, ich aber auch spannend finde. Und ich habe von Anfang an gesagt, es ist nicht Zweck der Veranstaltung, dass wir nur jüdische Musikerinnen und Musiker hätten.
Der jetzige Name drückt also nur die programmatische Ausrichtung aus?
Genau, und das ist alles, was zählt. Für mich heißt jüdisches Kammerorchester – wir wählten bewusst den englischen Namen, auch um darauf hinzuweisen, wie in Amerika mit jüdischer Kultur umgegangen wird, wovon man hier einiges lernen könnte –, wir kümmern uns um jüdische Themen. Ob das Juden machen oder Nichtjuden, spielt überhaupt keine Rolle.
Jetzt muss ich doch nochmal nach Israel zurückkehren: Haben Sie nun eine Hoffnung auf einen dauerhaften Frieden in Gaza und könnte dieser eine Verbesserung der Situation jüdischer Kultur auch in Deutschland bewirken?
Das ist heute unglaublich schwer zu beantworten und in einigen Wochen wissen wir hoffentlich, dass es einen dauerhaften Frieden gibt. Wie schnell sich dann die Gemüter weltweit beruhigen und wieder eine differenzierte Sicht auf das Judentum entsteht, ist allerdings noch schwieriger vorherzusagen.

