Jan Delay auf dem Tollwood-Festival:Jetzt alle mal bellen!

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Zapfenstreich um zehn, Lautstärkebegrenzung und ein ungewöhnliches Publikum: Konzerte auf dem Tollwood-Festival sind für die Künstler eine besondere Herausforderung. Für Jan Delay kein Problem. Er hat die unerschütterliche Kontrolle über seine Zuschauer. Die danken es ihm mit Gesängen, wie man sie sonst aus der Fankurve kennt.

Matthias Huber

Fast könnte man meinen, man sei zu fortgeschrittener Stunde in eine Familienfeier geraten. Auf der Bühne steht ein schräger Typ - Hut, Sonnenbrille, Unterhemd, türkisfarbene Anzughose, rot-schwarze Lederschuhe - und gibt seinem Publikum Anweisungen albernster Art: Jetzt alle hüpfen, jetzt alle zwei Mal hüpfen, jetzt wieder nur einmal. Alle ganz still halten. Alle mal bellen. Und die Leute machen bereitwillig mit. Die Damen mit den teuren Handtaschen unterm Arm ebenso wie die Herren mit Wohlstandsbauch und das 16-jährige Mädchen mit knallroten Haaren und Nasenpiercing. Was sie vereint: ein zufriedenes Grinsen im Gesicht.

Hatte sein Publikum fest im Griff: Jan Delay auf dem Tollwood-Festival. (Foto: Matthias Huber)

Der Mann auf der Bühne nennt sich Jan Delay, er ist auf dem Münchner Tollwood-Festival mit seiner Funk-Soul-Reggae-Mashup-Band "Disko No. 1" zu Gast. Und die Zuschauer sind keineswegs nur die typischen Feierwilligen, die sich schon mehrere Stunden vor Konzertbeginn versammeln, um ja einen Platz möglichst nah an der Bühne zu ergattern. Bis in die Ecken ist die Musik-Arena, das Konzertzelt des Festivals, prall gefüllt, und alle hängen Jan Delay an den Lippen, vom ersten bis zum letzten Takt. Auch ohne die mehr als 30 Grad Außentemperatur wäre seine unerschütterliche Kontrolle über das Publikum eine gewaltige Leistung.

Konzerte auf dem Münchner Tollwood-Festival sind immer so eine Sache. Sie dürfen nicht lauter als 95 Dezibel sein. Sie fangen immer ein wenig zu früh an, weil um zehn bereits Schluss sein muss. Und das familienfreundliche Festival zieht nicht nur ein Genre- sondern auch ein sehr gemischtes Publikum an. Viele, so scheint es, begreifen das Konzertprogramm des Festivals als Angebot zur Entdeckung, zur Horizonterweiterung, und sehen sich deshalb auch Künstler an, denen sie sonst kaum Beachtung schenken. Tollwood-Konzerte waren in der Vergangenheit häufig eher Veranstaltungen zum gepflegten Zuhören und Zuschauen als zum Mitmachen.

Nicht so bei Jan Delay: Seit er mit Absolute Beginner eine der erfolgreichsten deutschsprachigen Hiphop-Gruppen gründete, hat er sich mit drei Solo-Studio-Alben zu einem beeindruckend vielseitigen Showtalent entwickelt. "Wer Hiphop macht, aber nur Hiphop hört, betreibt Inzest", lautet eine seiner bekanntesten Rap-Zeilen, und Jan Delay hat sie zum Motto seines Schaffens gemacht. Seine Wurzeln liegen in der Sample-Kultur des ursprünglichen Genres, aber seine Musik ist darüber längst hinaus. Und folgerichtig geraten auch seine Live-Auftritte zu Streifzügen durch die vergangenen Jahrzehnte der Musikgeschichte.

Die Mitglieder von Disko No. 1, der zehnköpfigen Begleitband, sind angezogen, als kämen sie geradewegs von einem Straßenfest in New Orleans. Wenn sie sich gerade nicht auf vertrautem Funk-, Soul- oder Disco-Terrain bewegen, dann spielen sie ruhige Reggae-Offbeats und minimalistische Hiphop-Instrumentale ebenso souverän und frei, wie den Techno-Trash-Klassiker "Pump up the Jam".

Und wenn Jan Delay gerade nicht singt oder rappt, dann spielt er mit seinen Zuschauern, testet immer wieder, ob er sie noch komplett im Griff hat. Zwischen den zahlreichen albernen Mitmach-Nummern im Stil von "Gebt mir ein Oooh!" versteckt er ein kleines, kaum bemerkbares "Wir sind Helden"-Zitat. Und selbst wenn er der Menge nach einem Lied den Rücken zu wendet, die Arme ausgebreitet, mitten im Spotlight, und sich 20 Sekunden regungslos feiern lässt, dann wirkt das nicht wie eine einstudierte Pose, sondern wie eine spontane Eingebung.

Auch bei tropischen Temperaturen blieb die Stimmung gut. (Foto: Matthias Huber)

Es ist dieser Eindruck ständiger Improvisation, der selbst den ruhigeren Konzertgästen ein besonderes Erlebnis beschert. Die Show auf dem Münchner Tollwood fühlt sich so an, als gebe es sie in dieser Form nur hier, nur jetzt. Da ist es völlig egal, dass der Konzertablauf auf anderen Tourstopps vermutlich nahezu identisch ist. Jan Delay muss keinem Zuschauer ein Mikrofon vor die Nase halten, es muss hier auch niemand zum Mitsingen oder -tanzen auf die Bühne gebeten werden. Das Publikum ist ständig eingebunden in die Performance, und Jan Delay bewegt sich mit traumwandlerischer Sicherheit durch diesen Dialog.

Als er nach "Oh Johnny" die Bühne verlässt, um sich zur ersten Zugabe zurückfeiern zu lassen, entsteht im Konzertzelt Stadionatmosphäre: Statt "Zugabe"-Rufen stimmt die Menge die Melodie von "Seven Nation Army" der White Stripes an, die sich spätestens seit der Fußball-EM als Torjubel-Gesang der Fankurven etabliert hat. Jan Delay lässt sie kurz gewähren, ehe er hinter der Bühne sein Mikrofon einschaltet und den Gesang mit nur einem oder zwei Takten in eine völlig andere Richtung lenkt.

Der letzte Song - ein gewaltiges Medley aus Techno-, Soul-, Deichkind- und eigenen Stücken - geht vorbei. Es ist zehn Uhr, alles Betteln und Gröhlen hilft ohnehin nichts, der Lärmschutz verlangt das Ende des Konzerts. Jan Delay steht noch auf der Bühne, das Kinn auffordernd hochgereckt, die Arme ausgebreitet, und dirigiert den Applaus. Und selbst die Zuschauer, die wirklich gar nicht so aussehen, als gehörten sie hier hin, haben es immer noch: Dieses zufriedene, kindliche Grinsen.

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