Es ist die von vielen erhoffte größte Kundgebung gegen Antisemitismus geworden – in München, möglicherweise auch darüber hinaus. Mehr als 8000 Menschen haben am Sonntagnachmittag auf dem Odeonsplatz gegen Judenhass und für die Freilassung der von der Terrororganisation Hamas verschleppten israelischen Geiseln demonstriert. Ihnen gegenüber standen 1200 pro-palästinensische Demonstranten, die lautstark forderten, dass der Staat Israel von der Landkarte verschwinden solle.
Die Stimme der jungen Frau am Mikrofon von „Palästina spricht“ überschlägt sich, als die vielen Menschen vorbeiziehen, die schweigend, aber mit Israel-Fahnen in den Händen und gelben Schleifen an der Kleidung ihre Solidarität mit Israel bekunden. Keine Zweistaatenlösung oder kein jüdischer Staat? Auf English klingt das ähnlich: „two states – Jew state“. Es läuft auch auf das Gleiche hinaus: das Ende Israels. Die palästinensischen Demonstranten wünschen sich lautstark zurück ins Jahr 1948, vor die Staatsgründung Israels.
Schweigend zieht die pro-israelische Demonstration an ihnen vorbei, zu der mehr als hundert Münchner Parteien und Organisationen, Unternehmen, Vereine und Verbände aufgerufen haben – vom Sportverein Maccabi München bis zum FC Bayern, von den „Omas gegen Rechts“ bis zum Deutschen Gewerkschaftsbund, von der Stadtsparkasse bis zum Isar-Amper-Klinikum. Auch die queere Community ist dabei und die Landesvorsitzende des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes.
Sie alle müssen sich von den pro-palästinensischen Demonstranten als „Kindermörder“ beschimpfen lassen. „Zionisten sind Faschisten ... sind Rassisten!“ schallt es ihnen entgegen. Wie zur Bestätigung all dessen, was in den 60 Minuten zuvor auf dem Odeonsplatz bei der Kundgebung „München gegen Antisemitismus“ gesagt worden ist.
„Wir schwanken zwischen Wut und Hoffnung“, hat es Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, formuliert. „Wir brauchen Zivilcourage, die uns, der jüdischen Gemeinschaft, das Gefühl gibt, hier erwünscht und gewollt zu sein“, sagt Schuster. „Sie alle, die heute hier versammelt sind, leben vor, wie das geht.“
Schuster geht auch auf die anderen ein, die palästinensische Seite. Da weiß er noch nicht, was ihn und die anderen Kundgebungsteilnehmer erwarten wird, wenn sie am Wittelsbacherplatz vorbeikommen werden. Dort ist inzwischen die Gegendemo gegen die „zionistischen Heuchler“ angekommen, wie „Palästina spricht“ es nennt, und nimmt Aufstellung hinter den Absperrgittern. 400 Polizistinnen und Polizisten stehen dazwischen.
Im Vorfeld hat Bayerns Beauftragter gegen Antisemitismus, Ludwig Spaenle, gefordert, den pro-palästinensischen Aufmarsch zu untersagen. Christian Springer, Münchner Kabarettist und seit mehr als zwölf Jahren engagierter Orienthelfer in Jordanien und Libanon, hat am Samstag in einem emotionalen, teils auf Arabisch gesprochenen Appell an seine „palästinensischen Freunde“ gewarnt: „Bitte geht dort nicht hin!“
Am Montag – dem Jahrestag des Hamas-Massakers – will „Palästina spricht“ erneut demonstrieren. Während zur gleichen Zeit in der Synagoge die Gedenkfeier stattfindet. Die Leugnung des Existenzrechts Israels und Slogans wie „Widerstand an jedem Ort“ könnten der Diskussion um ein Demonstrationsverbot neue Nahrung geben.
Juden und Palästinenser seien nicht nur Nachbarn im Nahen Osten, sagt Josef Schuster, sondern auch in deutschen Städten. Hier wie dort gelte: Es gebe keine Alternative zum Zusammenleben. Skeptisch fügt der Zentralratsvorsitzende an: „Ich weiß nicht, ob jene, die zu keiner Empathie und Solidarität gegenüber Juden am 7. Oktober fähig waren, ihren moralischen Bankrott in Zukunft überwinden werden.“
Neben Josef Schuster sprechen auch die Schauspielerin Uschi Glas, die seit einem Jahr bei den von Guy Katz und Jil Meiteles organisierten Märschen für die Freilassung der Geiseln demonstriert („Wir müssen Farbe bekennen für unsere Demokratie und gegen den Judenhass“), Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) und Münchens dritte Bürgermeisterin Verena Dietl (SPD).
Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) ist Schirmherr der Kundgebung, zusammen mit der Münchner Ehrenbürgerin Charlotte Knobloch, der Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde. „Jeder Einzelne von euch steht heute hier gegen den Hass“, ruft Knobloch den Menschen auf dem gut gefüllten Odeonsplatz zu. „Bring them home“, skandiert die Menge.
Für viele Menschen sei es eine große Erleichterung gewesen, dass Israels Schlag gegen die Terrororganisation Hisbollah gelungen sei, sagt Söder. Er erneuert sein Schutzversprechen für jüdisches Leben in Deutschland: „Angriffe auf Juden sind Angriffe auf unsere Freiheit.“ Verena Dietl tritt zusammen mit Vertreterinnen und Vertretern aus dem Stadtrat auf die Bühne. „Sie sind nicht allein“, ruft sie den jüdischen Münchnerinnen und Münchnern zu.
Aus Sicherheitsgründen unangekündigt ist auch Israels Botschafter Ron Prosor nach München gekommen: „Israel wurde angegriffen, um uns zu vernichten.“ International wünschte er sich mehr Unterstützung durch Deutschland. „Enthaltung ist keine Haltung.“ Den Sonntagsreden müsse man auch am Montag noch vertrauen können, fordert er.