50 Jahre Krawalle in München:Als in Schwabing Steine flogen

Mit Gewalt gegen den "Sauhaufen": Im Juni 1962 schlägt die Stimmung auf der Amüsiermeile Leopoldstraße plötzlich um. Nach einem harmlosen Polizeieinsatz kommt es zu tagelangen Straßenschlachten - den Schwabinger Krawallen. Noch heute ist nur schwer nachvollziehbar, warum ein nichtiger Anlass derart eskaliert ist.

Wolfgang Görl

Der 21. Juni 1962 ist ein Feiertag. Wer katholisch ist und fromm, zieht mit der Fronleichnamsprozession durch die Stadt. Es ist sommerlich warm, eine dieser zauberhaften Nächte steht bevor, die den Menschen vorgaukeln, München läge am Mittelmeer. Da muss man raus, unter freiem Himmel sitzen, am besten in einem der vielen Straßencafés im leichtlebigen Schwabing.

Am späten Abend spielen fünf junge Gitarristen auf der Leopoldstraße Folksongs, um sie herum versammeln sich ein paar Dutzend Zuhörer. Anwohner beschweren sich wegen Ruhestörung, gegen 22:35 Uhr rollt ein Polizei-Auto mit zwei Beamten an. Die Polizisten zwingen die Musiker in den Streifenwagen, augenscheinlich handelt es sich um eine Festnahme. Die Menge protestiert.

Menschen rütteln an der grünen BMW-Limousine, irgendjemand sticht ein Loch in den Reifen. Verstärkung rückt an, es kommt zum Handgemenge. Während drei der Musiker und die ersten Demonstranten ins Polizeipräsidium verfrachtet werden, strömen immer mehr Leute zum Ort des Geschehens.

Mindestens 1000 Menschen beteiligen sich am Aufruhr, andere Quellen sprechen von 5000 Teilnehmern. Sie blockieren die Straße, der Verkehr steht still. Die Beamten bilden eine "Räumkette", drängen die Protestierenden an Hauswände oder in die Seitenstraßen, wer Pech hat, bekommt den Gummiknüppel zu spüren. Nach der Festnahme von 41 Personen erklärt die Polizei den Einsatz um 1:40 Uhr für beendet.

Doch dies ist nur der Anfang. In den folgenden vier Nächten geht die Randale weiter. Wer in diesen Tagen die Münchner Zeitungen liest, den beschleicht das Gefühl, in einem Bürgerkriegsland zu leben: "Aufruhr in Schwabing" titel die Abendzeitung. Der Münchner Merkur schreibt: "In Schwabing ist der Teufel los." Eine SZ-Schlagzeile lautet: "Nacht für Nacht: Tumulte in Schwabing." Und die Bild-Zeitung dichtet: "Gummiknüppel flogen wie die Dreschflegel." Für die fünf wüsten Nächte bürgert sich bald der Name "Schwabinger Krawalle" ein. Etwas Unerwartetes, Unerhörtes ist passiert. Da bekommt es die Obrigkeit plötzlich mit einer Jugend zu tun, die offen rebelliert. Was ist geschehen?

Es gibt viele Deutungsversuche, bisweilen bleibt aber auch Ratlosigkeit, wie etwa bei Hans-Jochen Vogel, der gut zwei Jahre vor den Krawallen das Amt des Oberbürgermeisters angetreten hatte. Am Ende seiner Amtszeit 1972 bilanzierte er, ihm sei nie recht klar geworden, was Tausende fünf Nächte lang dazu gebracht habe, sich mit der Polizei herumzuschlagen. Wahrscheinlich sei es, wenn man von Rowdies absehe, "doch schon ein unartikulierter Protest gegen die Wohlstandsgesellschaft und das Wirtschaftswunder" gewesen, so Vogel.

Vor sechs Jahren hat eine Gruppe junger Historiker die Vorgänge untersucht und die Ergebnisse in dem Buch "Schwabinger Krawalle" veröffentlicht. Herausgeber Gerhard Fürmetz präsentiert darin eine Auswahl der Deutungen, mit denen man die Krawalle einzuordnen versuchte. Mal werden sie als Nachhall der "Halbstarken"-Aktionen der 1950er Jahre betrachtet, mal als Vorboten der 1968er-Revolte oder als Konflikt zwischen der autoritär geprägten älteren Generation und den hedonistisch gestimmten Jugendlichen der herandämmernden Beat-Ära.

Ein erregender, flirrender Zustand

Der Historiker Stefan Hemler, einer der Autoren, schlussfolgert, dass die Krawalle unter anderem von der Protestform her stärker auf die späteren 1950er Jahre als auf die 1968er-Bewegung verweisen. "Sie sind mehr Nachfahre als Vorläufer", so Hemler.

Was da aus nichtigem Anlass hereinbrach, hatte ein Vorspiel. Gut zwei Wochen vor dem Schwabinger Aufruhr, am 5. Juni, war es bereits zu Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und etwa 2000 Besuchern eines Jazzkonzerts in der Aula der Ludwig-Maximilians-Universität gekommen. Einige Polizeifahrzeuge wurden beschädigt, neun Männer festgenommen.

Am 20. Juni räumten acht Polizeibeamte den Wedekindplatz, wo 150 Personen einigen Straßenmusikern zuhörten und tanzten. Man darf annehmen, dass die jugendlichen Schwabing-Bummler die Polizisten als Störenfriede betrachteten, die ihnen den Spaß verderben wollten. Der Polizei wiederum erschienen die jungen Leute als Unruhestifter und Krachmacher, vor denen sie die Bürger schützen zu müssen glaubte.

Dass Schwabing der Ort des Konflikts war, ist kein Zufall. Der Stadtteil war Anfang der 1960er Jahre sowohl Amüsierviertel als auch Experimentierfeld der künstlerischen Avantgarde. Es gab Kabarettbühnen, Jazzclubs, kleine Theater, auf dem Trottoir entlang der Leopoldstraße stellten Maler ihre Werke aus und sangen Straßenmusiker ihre Lieder. Schwabing war ein erregender, flirrender Zustand, dessen Verheißungen täglich Tausende erlagen.

Es gab, schrieb der spätere Kommunarde Dieter Kunzelmann, "in der gesamten Bundesrepublik keinen lebendigeren Ort als München-Schwabing". Was Wunder, wenn die jungen Leute diesen Ort als den ihren betrachteten, als eine Insel, auf der es freizügiger zuging als anderswo im grundsoliden München. In dieser Inszenierung bekam die Polizei zwangsläufig die Rolle des Eindringlings, des Spielverderbers, gegen den man sich wehren müsse.

Als hätten sie es mit Schwerkriminellen zu tun

Aus heutiger Sicht ist es schwer verständlich, warum die Ordnungshüter von Anfang an mit äußerster Härte einschritten. Richtig ist gewiss, dass die Münchner Stadtpolizei kaum Erfahrungen mit Ausschreitungen dieser Art hatte. Es wäre aber klug gewesen, nach dem desaströsen Einsatz vom 21. Juni die eigene Taktik zu überprüfen. Denn was folgte, war dann doch nicht so überraschend und geschah nach immer gleichem Muster: Am Abend versammelten sich die jungen Leute auf der Leopoldstraße, sie blockierten den Verkehr und trieben auf der Fahrbahn allerlei Unfug. Es gab auch Demonstranten, die Steine und Flaschen warfen und die Polizeifahrzeuge attackierten.

Am 22. und 23. Juni beteiligten sich jeweils bis zu 10.000 Menschen an den Auseinandersetzungen, die in Straßenschlachten ausarteten. Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel forderte am 22. Juni aus einem Lautsprecherwagen die Protestierer auf, die Straße zu räumen. "Er klang ziemlich aggressiv", erinnert sich Michael Erber, einer der fünf Straßenmusiker von der Leopoldstraße. Es half nichts, Vogels Worte "wurden mit Gelächter quittiert".

Die Polizei sah offenbar keinen Anlass, die Situation zu entschärfen. Im Gegenteil. Die Beamten, unter ihnen auch eine Reiterstaffel, langten zu, als hätten sie es mit Schwerkriminellen zu tun. In der Nacht zum 24. Juni erlitten 14 Protestler schwere Verletzungen, einer von ihnen schwebte in Lebensgefahr.

Mit Fußtritten und Knüppelschlägen aufgetrieben

Ein Augenzeuge schrieb in sein Tagebuch: "An den Hauswänden lehnen junge Männer, die, halb bewusstlos geprügelt, die Hände über den Kopf halten. In der Hohenzollernstraße sehe ich, wie ein junger Mann, der zwischen den Straßenbahnschienen gestürzt liegt, von Polizisten mit Fußtritten und Knüppelschlägen aufgetrieben wird."

Auch Kurt Seelmann, den damaligen Leiter des Stadtjugendamtes, traktierten Beamte mit Gummiknüppeln. Der US-amerikanische Vizekonsul wurde gleich an zwei Abenden Opfer der Knüppelorgie, eine besonders peinliche Angelegenheit für die Stadt.

Fraglos gab es auch auf der anderen Seite Personen, die den Aufruhr zu gewaltsamen Attacken auf die Beamten nutzten. Auch Polizisten wurden verletzt, von den Schimpftiraden, denen sie ausgesetzt waren, gar nicht zu reden. Von einem geglückten Polizeieinsatz konnte angesichts der verheerenden Bilanz kaum die Rede sein, das sah nach einiger Zeit selbst das Polizeipräsidium so. Die Taktik der Einsatzleitung um den seit 1952 amtierenden Polizeipräsidenten Anton Heigl orientierte sich, schreibt Michael Sturm in besagtem Buch über die Krawallnächte, "an Konzepten, die im Wesentlichen aus der Zeit der Weimarer Republik stammten".

Wie die aussahen, hat Heigls Nachfolger Manfred Schreiber später so geschildert: "Aufsitzen, Ausrücken, Absitzen, Räumen, Aufsitzen, Einrücken, Essenfassen." Deeskalation spielte dabei eine geringe Rolle. Schreiber machte sich bald daran, die Einsatztaktik zu reformieren. Eine der Neuerungen war, einen Polizeipsychologen in Dienst zu stellen.

Bereits im August 1962 begann das juristische Nachspiel der Krawalle. Gegen 248 Personen leitete die Staatsanwaltschaft Ermittlungsverfahren wegen "Aufruhrs", "Auflaufs" oder "Landfriedensbruchs" ein. In 54 Fällen verhängten die Richter Geldbußen, Jugendarrest oder Gefängnisstrafen. Auch gegen 143 Polizisten ermittelte die Staatsanwaltschaft, zumeist wegen "Körperverletzung im Amt". Nur einer der Beamten wurde rechtskräftig verurteilt.

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