70 Jahre Befreiung des KZ Dachau:"Ich hatte beschlossen, Dachau zu vergessen"

70 Jahre Befreiung des KZ Dachau: Gedenken, vor allem für die Überlebenden eine Herausforderung: Überlebende Abba Naor (am Pult) mit Urenkeln, Vladimír Feierabend (von rechts) und Jean Samuel, der erst mal nicht erinnern wollte. Außerdem Dietz de Loos (links), Präsident des Internationalen Dachau-Komitees

Gedenken, vor allem für die Überlebenden eine Herausforderung: Überlebende Abba Naor (am Pult) mit Urenkeln, Vladimír Feierabend (von rechts) und Jean Samuel, der erst mal nicht erinnern wollte. Außerdem Dietz de Loos (links), Präsident des Internationalen Dachau-Komitees

(Foto: Niels P. Joergensen)

Über ihre KZ-Erlebnisse zu sprechen, verlangt Überlebenden viel ab - sie müssen sich dem Schrecken erneut stellen. Doch ihr Zeugnis ist wichtig. Bei der Gedenkfeier in Dachau würdigt auch Kanzlerin Merkel die Opfer des NS-Terrors.

Von Barbara Galaktionow

Der gebürtige Ungar Stephen Nasser ist 84 Jahre alt, er lebt heute in den USA. Der Weißrusse Pawel Kasej ist 89 Jahre alt. Sie sind zwei Überlebende von 138, die an diesem verregneten Sonntag nach Dachau gekommen sind, um ihrer Befreiung aus dem Martyrium der KZ-Haft zu gedenken (Nasser und Kasej und einige andere wurden im Vorfeld von SZ-Autoren befragt, hier ihre Protokolle).

70 Jahre ist es her, dass die US-Armee das Konzentrationslager Dachau befreite. Und blickt man auf das Alter der Überlebenden des NS-Terrors, die über 80, oft sogar mehr als 90 Jahre alt sind, so ist klar, welch große Bedeutung es hat, dass sie dieses Mal noch zur Gedenkfeier kommen können. In fünf, gar in zehn Jahren wird es wohl kaum mehr Zeugen der brutalen Willkürherrschaft der KZ-Schergen geben.

Eine wichtige Rolle spielt an diesem Tag aber auch ein anderer Besuch: der von Kanzlerin Angela Merkel. Denn es ist das erste Mal, dass ein amtierender deutscher Regierungschef an der zentralen Gedenkfeier in Dachau teilnimmt. Gabriele Hammermann, Leiterin der KZ Gedenkstätte Dachau, betont, dass die Überlebenden, mit denen sie gesprochen hätte, den Besuch Merkels mit "außerordentlicher Wertschätzung" aufgenommen hätten. Es ist ein Zeichen, das zählt.

Gesichter und Namen statt nackte Zahlen

"Ich hoffe, dass ich bei den Feierlichkeiten Angela Merkel persönlich in Dachau treffen kann", sagte der Überlebende Stephen Nasser im Vorfeld der Gedenkfeier. Wenn möglich, wolle er ihr ein Exemplar seines Buches "Die Stimme meines Bruders" schenken, in dem er über die Zeit im Konzentrationslager Dachau berichtet.

Ein Zeugnis, das nach den Worten Merkels wichtig ist. Es bewege sie sehr, dass so viele Überlebende zur Gedenkfeier gekommen seien, sagte die Kanzlerin. Das furchtbare Leid, das diese Menschen erfahren hätten, entziehe sich dem Vorstellungsvermögen. Nur die Berichte der Überlebenden ermöglichten es vor allem auch jungen Menschen, "nackte Zahlen und Daten mit Gesichtern und Namen und einzelnen Lebenswegen zu verbinden".

"Es ist ein großes Glück, dass Menschen wie Sie bereit sind, uns Ihre Lebensgeschichte zu erzählen", sagte Merkel an die Überlebenden gewandt. Sie erinnerte zugleich auch an die mehr als 200 000 Menschen, die im KZ Dachau oder einem seiner Außenlager verfolgt, gequält und getötet wurden, "weil sie anders dachten, anders glaubten, anders lebten, als es der Ideologie des Nationalsozialismus entsprach, oder einfach nur, weil es sie gab" - und an die geschätzt 41 500 Menschen, die in dem Lager getötet wurden.

Das KZ vergessen, um leben zu können

US-Botschafter John B. Emerson sagte zu den Überlebenden: "Ich kann mir nicht annähernd vorstellen, welche Erinnerungen sie jeden Tag mit sich herumtragen."

Auch der US-Veteran und ehemalige US-Botschafter Alan Lukens würdigte die früheren KZ-Häftlinge. Ihre Schicksale zeigten, "welchen Mut sie bewiesen haben in ihrem Kampf ums Überleben". Lukens, der mit seiner Panzerdivision bei der Befreiung Dachaus beteiligt war, schilderte, "wie überwältigt wir waren, als sie (die KZ-Häftlinge) uns umarmt haben und die amerikanische Flagge, die sei versteckt hatten, herausholten".

Auch die Überlebenden, die bei der Gedenkfeier zu Wort kommen, zeigen sich bewegt. Jean Samuel aus Frankreich sagte, es sei der schönste Tag seines Lebens gewesen, als er erkannte, "dass der Albtraum zuende war". Nach der Befreiung habe er zunächst "beschlossen, Dachau zu vergessen". "Ich wollte nämlich leben." Erst später sei es ihm möglich geworden, über die grauenhaften Erlebnisse im Lager zu sprechen.

Der bald 91 Jahre alte, tschechische Überlebende Vladimír Feierabend berichtete in anrührendem, leicht gebrochenen Deutsch, welch großen Druck die Befreiung von den Häftlingen nahm: "Wir konnten ausatmen."

Rede mit Wucht

Abba Naor aus Israel erinnerte hingegen daran, dass die Befreiung für viele zu spät kam. In einer hochemotionalen Rede brachte er die vielen vor allem jüdischen Kinder zur Sprache, die von den Nazis ermordet wurden, insgesamt 1,5 Millionen junger Menschen. Er erzählte von einem namenlosen jüdischen Säugling, der, kaum geboren, im Konzentrationslager ertränkt wurde; von einem von den NS-Schergen zu Tode gequälten Jungen namens Gaston, dessen letztes, leise gehauchtes Wort "Mutter" war; und von seinen beiden Brüdern, die von den Nazis getötet wurden. "Ihre Agonie dauert bis ans Ende aller Tage", sagte Naor, der von zwei seiner insgesamt acht Urenkel aufs Podium begleitet wurde.

Die Wucht von Abba Naors Rede, die schlicht vorgetragen war und von so furchtbaren Erlebnissen zeugte, brachte selbst am besten zum Ausdruck, wie eindrücklich und wie wichtig es ist, das die Überlebenden des NS-Terrors noch über das Geschehen sprechen können - und dass sie bereit sind, sich dem Schrecken immer wieder zu stellen.

Auch im Gespräch mit dem Überlebenden Pawel Kasej wurde deutlich, dass es Wunden gibt, die auch die Zeit nicht heilen kann, doch dass die Zeit es immerhin möglich macht, sich Erinnerungen zu stellen: "Würde sich der Mensch an alles erinnern, würde er sehr schnell sterben. Nur weil ich vieles vergessen habe, kann ich heute nach Dachau zurückkehren", sagte er.

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