Ist Klettern für Kinder gefährlich?:"Ein geringes Restrisiko muss man akzeptieren"

Alpenvereins-Experte Stefan Winter über die Gefahren des Kletterns und die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen - vor allem für Kinder

Christina Warta

In der Kletterhalle "Heavens Gate" ist vor knapp zwei Wochen ein neunjähriges Mädchen aus 18 Metern abgestürzt und gestorben. Stefan Winter ist beim Deutschen Alpenverein (DAV) für Breitenbergsport, Sportentwicklung und Sicherheitsforschung zuständig. Er erklärt, wann Klettern sicher ist und wo Restrisiken lauern.

SZ: Man geht davon aus, dass ein Fehler im Knoten zu dem Sturz geführt hat. Wie kann man solche Fehler vermeiden?

Winter: Indem der Kletterer, bevor er losklettert, seinen Anseilgurt und -knoten kontrolliert. Auch der Sichernde soll den Knoten und das Sicherungsgerät überprüfen. So kontrolliert jeder noch einmal den anderen - eine doppelte Kontrolle.

SZ: Geht man so auch bei Kindern vor? Viele klettern mittlerweile im Sportunterricht, während die Eltern möglicherweise vom Klettern keine Ahnung haben. Wer trägt die Verantwortung?

Winter: Kinder sind Schutzbedürftige und brauchen besondere Aufsicht. Die muss von Eltern, Lehrern oder Jugendleitern im Verein wahrgenommen werden. Dabei gelten strengere Maßstäbe, weil Kindern manchmal die kognitive Reife fehlt und die motorischen Fertigkeiten noch nicht ausgereift sind.

SZ: Sollten Neunjährige überhaupt schon klettern?

Winter: Grundsätzlich ist es schwer, exakte Altersangaben für sportliche Betätigungen zu geben, weil wir bei Kindern ganz unterschiedliche Entwicklungsstände von Körper und Geist vorfinden. Deswegen ist es immer eine individuelle Entscheidung des Aufsichtsführenden, was dem Kind zugemutet werden kann. Wichtig ist, dass ein Kind zu jeder Sekunde im Blickfeld der Aufsichtsperson ist. Bei Tätigkeiten, die eine gewisse Gefahr beinhalten, überwacht man das am besten direkt.

SZ: Manche vergleichen die Situation in einer Kletterhalle mit der in einem Schwimmbad. Trifft das zu?

Winter: Das ist grundsätzlich ähnlich: Es handelt sich um eine Sportstätte, man zahlt Eintritt, nimmt dadurch die Benutzungsordnung zur Kenntnis, und dass man auf eigene Gefahr handelt. Auch beim Schwimmen wird nicht beim Einlass die Schwimmfähigkeit überprüft, und es kann auch nicht gewährleistet werden, dass neben jedem Schwimmer ein Bademeister herläuft.

SZ: Wenn ein Erwachsener mit Kindern klettert, muss er sich also selbst entsprechend auskennen.

Winter: Man muss von einem Erwachsenen einfach erwarten, dass er die Situation einschätzen kann. Dass sich jemand ein Seil kauft und losklettert, das gibt es nicht. Da spielt auch die "angeborene" Furcht des Menschen vor der Tiefe eine gewisse Rolle. Die Leute machen einen Kurs, lassen sich von Freunden einweisen, üben im Trockenen oder machen sich schlau durch Literatur und Internet. Das ist natürlich der schlechteste Weg, am besten ist es, einen Kurs zu machen.

"Ein geringes Restrisiko muss man akzeptieren"

SZ: Wer macht die meisten Fehler?

Winter: Eine Studie hat folgendes ergeben: Ein junger Kletterer macht im Durchschnitt genauso viele Fehler wie ein alter, ein erfahrener genauso viele wie ein unerfahrerer. Das war eine überraschende Erkenntnis. Der einzig signifikante Unterschied ist: Ausgebildete Kletterer machen nur halb so viele Fehler wie nicht ausgebildete Sportler.

SZ: Was wird falsch gemacht?

Winter: Es gibt fünf zentrale Fehler: Am häufigsten passiert etwas, weil schlecht gesichert wurde. Auch ein Seil, das zu weit durchhängt, das sogenannte Schlappseil, verursacht oft Unfälle. Außerdem falsche Knoten, Kollisionen, wenn der Sichernde so steht, dass ihm einer draufspringt, und Unaufmerksamkeit, wenn der Sichernde abgelenkt ist.

Bei Kindern kommt noch dazu, dass man sie nicht überfordern darf. Die Kletterdauer sollte daher zwei Stunden nicht wesentlich überschreiten. Dann lassen Konzentration und Ausdauer nach.

SZ: Bringt es etwas, bei Kindern die Höhe einzuschränken?

Winter: Das hat keinen Sinn, die Fehler werden unabhängig von der Höhe gemacht. Man kann auch aus fünf Metern dumm fallen und sich das Genick brechen. Und das Abenteuer, der Nervenkitzel ist ja die Höhe.

SZ: Im Schwimmen gibt es Abzeichen wie den Freischwimmer, den Fahrtenschwimmer. Beim Klettern auch?

Winter: Das gibt's: den Kletterschein "Toprope", also einfaches Klettern mit Seil von oben, und "Vorstieg" für Fortgeschrittene, wenn man das Seil von unten mitführt. Das sind Leistungsabzeichen, aber keine Führerscheine oder Lizenzen.

SZ: Das heißt, die muss man nicht nachweisen, um in der Halle zu klettern.

Winter: Nein, denn was machen Sie mit 30 Leuten in einem Schwimmbad, die nicht schwimmen dürfen, weil sie den Fahrtenschwimmer nicht nachweisen können? Das einzige ist, dass der Alpenverein in der Benutzungsordnung der Kletterhallen vorschreibt, dass jeder fähig ist, die grundlegenden Sicherungs- und Klettertechniken auszuführen.

Dann gibt es Poster, die auf die Gefahren hinweisen, auf den Partnercheck und die Ausbildungsmöglichkeiten. Das publizieren wir auch im Internet, auf DVD und in einem Buch.

"Ein geringes Restrisiko muss man akzeptieren"

SZ: Aber es bleibt ein Restrisiko.

Winter: Jedes Jahr ertrinken Menschen im Freibad, aber niemand schreit nach einer Einlasskontrolle. Die Gesellschaft muss dem Kletterer ein Stück Eigenverantwortung überlassen und ein geringes Restrisiko akzeptieren. Das gehört zu Sportarten wie dem Klettern.

Wichtig ist aber auch, dass die, die das Klettern anbieten, das Bestmögliche tun, um den Sport sicher zu machen - die Halle, die Wand, die Karabiner, die Ausrüstung. Das wird sichergestellt durch Normen. Anbieter wie der DAV müssen auch dafür sorgen, dass die Leute den Sport nicht auf die leichte Schulter nehmen.

SZ: Das Klettern hat ja zuletzt sehr geboomt. Wird der Sport vielleicht nicht ernst genug genommen?

Winter: Das Problem ist der Rahmen, in dem geklettert wird. In den Hallen gibt es viel Ablenkung, viele Störfaktoren, wenn die Halle voll ist. Außerdem hat man eine Situation, die dem Kletternden Sicherheit suggeriert, so wird er vielleicht nachlässig. Das Bewusstsein für die Gefahr lässt etwas nach. Man ist im Trockenen, im Warmen, dann läuft vielleicht Musik, wovon wir übrigens abraten. Es sind viele Leute da, während man im Gebirge alleine wäre.

SZ: Wie viele solcher Unfälle passieren überhaupt beim Klettern?

Winter: Seit 2000 wurden uns von den Mitgliedern bundesweit lediglich 58 Unfälle mit nennenswerter körperlicher Verletzung aus Kletterhallen gemeldet.

SZ: Wie oft kommt jemand zu Tode?

Winter: In dieser Zeit gab es zwei Todesfälle in Hallen. Fakt ist aber auch: Die meisten Unfälle, auch relativ gesehen, passieren beim Wandern, weil die Gefahr dabei nicht so offensichtlich ist. Wir haben in der Studie auch festgestellt, dass zwei Drittel der Kletterer ohne Fehl und Tadel sichern. Und nicht jeder Fehler, den das andere Drittel macht, führt automatisch zu einem Unfall.

SZ: Ist Klettern für Kinder gefährlicher als Turnen oder Fußball?

Winter: Dazu bräuchte man die Verletztenzahlen. Es sind beispielsweise in diesem Winter 23 Menschen in Österreich beim Skifahren gestorben. Natürlich fahren mehr Leute Ski als Menschen klettern. Trotzdem ist das eine riesige Zahl.

Wenn Sie aber wissen wollen, ob man Klettern für Kinder nach wie vor uneingeschränkt empfehlen kann, dann lautet die Antwort: Ja. Denn Klettern ist eine hervorragende Möglichkeit, sich körperlich zu entwickeln und sozial zu stärken. Und Klettern in der Halle ist durch eine normierte Ausrüstung grundsätzlich sicher, laut Statistik sind die Fehler gering. Aber nur, wenn Kindern die Gefahr und das Risiko eindrücklich bewusst gemacht werden, können sie auch damit umgehen.

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