Klassik:Die Menschenfänger von Sendling

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Allerfeinster Kieselkrach mit FM Einheit - unterstützt von Musikern der Philharmoniker. (Foto: Tobias Hase / mpil)

Mit ungewöhnlichen Konzertformaten begeistern die Münchner Philharmoniker in der Isarphilharmonie ihr Publikum.

Von Egbert Tholl, München

Die Isarphilharmonie heißt Isarphilharmonie, weil sie an der Isar liegt, was der alte Gasteig eigentlich auch tut, aber halt nicht ganz so unmittelbar. Nun gibt es an den Stränden der Isar etwas in großer Fülle: Kiesel. Überhaupt sind die Kiesel eines der wichtigsten Dinge, die die Isar zu bieten hat, denn wer als Kind nicht lernte, einen flachen Isarkiesel übers Wasser hüpfen zu lassen, der hat die Isar nie erfahren. Die Kiesel können aber nicht nur übers Wasser hüpfen, sie können auch in der Halle E, dem wundervollen Foyer der Isarphilharmonie, hüpfen. Auf einer Art Tablett, das FM Einheit mitgebracht hat. Darauf liegen viele Kiesel, in denen Einheit herumrührt, darauf herumhaut, überhaupt halt Kieselkrach macht, der dann klingt wie ein Sturm oder ein Tosen, Wasser, Natur, Isar und irgendwo ganz am Ende das Meer.

Kaum ist die Isarphilharmonie eröffnet, gibt es die erste Ausgabe des Late-Night-Formats. Es ist großartig zu erleben, wie aus dem Stand ein Hochkulturtempel, was die Isarphilharmonie dann letztlich doch ist, umgewandelt werden kann in einen Ort der Durchlässigkeit, der Überraschung. Das normale Konzert der Philharmoniker ist aus, einige Besucher gehen, andere bleiben, neue kommen hinzu. Im grandiosen Foyer, also der Halle E, stehen schon diverse Gerätschaften bereit, schließlich kommen einige Musikerinnen und Musiker der Philharmoniker hinzu und gemeinsam mit FM Einheit und dessen Kumpanen führen sie ein Stück von Vangelino Currentzis auf. Dieser hat einen Bruder, der heißt Teodor und ist ein sehr berühmter und sehr eigenwilliger Dirigent, und angesichts dessen, was Vangelino komponiert, würde man mal gern eine Familienfeier im Hause Currentzis miterleben, die wäre sicherlich gut für einige Überraschungen.

Auf jeden Fall fuhrwerkt FM Einheit herum, wie man es von ihm kennt, mit dieser grandiosen Unabdingbarkeit, zu der die philharmonischen Mitstreiter einige schöne Klangfarben beisteuern. Zwar ist dieser Beitrag nicht hundertprozentig gewinnbringend, aber schließlich ist dies die erste Late-Night, und in der von nun an regelmäßigen Abfolge dieses Formats gibt es ja noch viele Möglichkeiten von Kooperationen aller Arten. Nach dem vage bleibenden Currentzis-Stück ziehen sich die Philharmoniker zurück, FM Einheit macht mit seinen Kumpels alleine weiter, singt für seine Verhältnisse erstaunlich poppig wirkende Songs, man trinkt ein Bier aufs Haus und freut sich, dass man gerade etwas erlebt, was man im Foyer eines Konzertsaals nicht oft erleben kann.

Der Herkulessaal könnte sich bald zum Ladenhüter entwickeln

Tags darauf verwandeln sich die Philharmoniker unter Mithilfe von Studierenden der Musikhochschule, die ja in Teilen ebenfalls bald aufs HP8-Areal umziehen wird, endgültig in die Menschenfänger von Sendling. Die Isarphilharmonie ist ohnehin nicht "in the middle of nowhere", sondern im Zentrum des Interesses aller Musikliebhaber, so sehr, dass die Vermutung eines Kollegen zutreffen mag, der Herkulessaal werde sich bald zum Ladenhüter entwickeln. Auf jeden Fall kommen knapp 1000 Menschen zum "Ein#Klang", mehr dürfen nicht rein, weil die Besucher, mit leuchtenden Kinderaugen in Gesichtern jeglichen Alters, auf verschlungenen Pfaden durch alle Bereiche der Isarphilharmonie geführt werden.

Im Foyer beginnt die Musik, dann macht man sich bald auf den Weg und trifft immer wieder auf Partikel des Stücks von Gavin Bryars, "Jesus Blood Never Failed Me Yet". Man findet sie in unterschiedlichsten Besetzungen und perfekt synchronisiert im Zwischenkorridor, auf Treppenabsätzen und dann in Grüppchen verteilt überall im Saal selbst. Der Weg dort hinein dauert, weil die Besucher immer weder verblüfft stehen bleiben, Fotos machen. Drinnen rundet sich dann der Klang, aus Bryars Klangkitsch schält sich zunehmend das Anliegen heraus, einem Obdachlosen eine poetische Stimme zu geben.

Musik begleitet schon auf dem Weg in den Konzertsaal. (Foto: Tobias Hase / mphil)

Dann schneidet die ungemein präzise und effektvolle Lichtdramaturgie von Steven Walter und Iñigo Giner Miranda perfekt ein philharmonisches Streichquartett auf dem Podium aus dem Dunkel, es erklingt das Adagio aus Schuberts Streichquintett. Mit großer Zartheit beweisen die Fünf, was man nach dem Eröffnungskonzert schon ahnte: Die Isarphilharmonie hat ein immenses Potenzial als Kammermusiksaal. Ganz vorne auf dem Balkon, fast oberhalb des Podiums, erlebt man die perfekte Mischung aus Zusammenklingen und analytischem Hören jeder einzelnen Stimme.

Dann darf wieder gewandert werden, die explizite Aufforderung dazu wir projiziert. Während die Musikerinnen und Musiker im Saal verteilt Terry Rileys rauschhafte Minimal-Music-Ikone "In C" spielen, erkunden die vielen neugierigen Besucher den Klang des Saals, wandern herum, kommen manchem Musikanten sehr nah, suchen sich vielleicht die ihnen genehmsten Plätze fürs nächste Konzert. Und alle sind fast andächtig, gebannt. Viele bleiben danach noch lange im Foyer, werden wiederkommen. Man hat ja mit vielem gerechnet, aber dass der Erfolg der Isarphilharmonie so überbordend ist, das ist dann doch verblüffend.

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