Kritik:Ein Stück wie ein Gemälde

Kritik: Stoisch und unmissverständlich: Manfred Honeck dirigiert das BR-Symphonieorchester.

Stoisch und unmissverständlich: Manfred Honeck dirigiert das BR-Symphonieorchester.

(Foto: Astrid Ackermann/BR)

Manfred Honeck dirigiert das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Gemeinsam stellen sie sich in der Isarphilharmonie ungewohnten Herausforderungen.

Von Sarah Maderer

Eigentlich hätte Julian Andersons Oratorium "Exiles" bereits im Januar 2022 in München zu hören sein sollen. Covid geschuldet wurde das Stück am 22. April in Berlin uraufgeführt, nun hatte es am Donnerstagabend in der Isarphilharmonie München-Premiere. Für die Darbietung des Chors und Orchesters des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Manfred Honeck war Anderson angereist.

In fünf Sätzen blickt der 55-jährige Brite auf verschiedene Formen des Exils, vom äußerlich auferlegten Exil eines Kriegsflüchtenden bis zum inneren Exil von Kulturschaffenden in der Coronazeit. Diese Programmatik unterstreicht Anderson interkulturell und intertextuell, überlagert in den Vokalpartien verschiedene Sprachen und Texte, darunter Briefe, Gedichte und Psalmen in Französisch, Hebräisch oder Englisch. Doch selbst im wortlosen Instrumentalsatz vermag das Orchester Andersons Botschaft zu transportieren.

So streng komponiert "Exiles" sein mag, verlangt es den weit mehr als hundert Akteuren viel Vertrauen ab. In dieser großen Besetzung singt der Chor nicht von der Bühne, sondern vom Rang. Durch die Entfernung sei Kontakt halten schwieriger, als es der Chor vom Herkulessaal gewohnt ist, erklären die Sänger später im Gespräch mit der SZ. Auch die Orchestermusiker würden vieles solistisch bestreiten und hätten bei einem so jungen Stück kaum Anhaltspunkte aus Aufnahmen.

Das Vertrauen muss Honeck gelten. Stoisch und unmissverständlich führt er Chor, Orchester und die Solistin Julia Bullock in der Mitte zusammen. Bullock gelingt es, mit ihrem dunklen, kraftvollen Sopran durchzudringen. Keine Selbstverständlichkeit, fühlt es sich doch spätestens zu den elektronisch eingespielten Obertönen an wie in einem Gewölbe voll überlagerndem Widerhall - beklemmend, übermannend, zuweilen tröstend. Oder wie Altistin Kerstin Rosenfeldt nach dem Konzert anmerkt: "Oft habe ich gedacht, das Stück ist wie ein Gemälde. Man steht davor, es spricht einen an, aber man weiß nicht genau, was es bedeutet."

Tosender kann ein Publikum nicht reagieren

Beklemmung schlägt sich auch in Schostakowitschs Fünfter Symphonie nieder. Komponiert unter der Zensur des Stalin-Regimes und unter Androhung der Verbannung nach Sibirien legt Schostakowitsch hier ein vermeintliches Vorzeigewerk sowjetischer Ästhetik vor. Honeck hat deren ironisch überzeichnete Extreme gezielt herausgearbeitet. Das BR-Orchester war hierfür ein guter Nährboden, es hat diese Symphonie viele Male unter Jansons gespielt.

Honeck kann nun die Früchte ernten, lässt die Musiker aber auch Neues entdecken, zum Beispiel dass ein Dreifachpiano an der richtigen Stelle kaum wahrnehmbar sein darf und muss. "Es macht viel Spaß und zeugt von großem Vertrauen, wenn man derart an die Grenzen gehen darf", berichtet der Trompeter Thomas Kiechle. Der Vertrauensvorschuss zahlt sich aus. Die zarten Streichertremoli im dritten Satz, die die herausragenden Holz-Soli stützen und die Honeck sul ponticello spielen lässt, um die klirrende Kälte Sibiriens erfahrbar zu machen, gehen durch Mark und Bein und treffen mit nicht geringerer Wucht als das massive Finale. Wie einen surrenden Wespenschwarm stachelt Honeck die Streicher an, bis ihn die Energie des Orchesters zum Schlussakkord beinahe aus den Schuhen hebt. Tosender kann ein Publikum nicht reagieren.

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