Inventur:Ausgezählt

Inventur: Illustration: Dennis Schmidt

Illustration: Dennis Schmidt

"Wegen Inventur geschlossen" - diesen Hinweis liest man zum Jahreswechsel kaum noch bei Münchens Geschäften. Die Händler wollen auf den Umsatz nicht verzichten, Computer vereinfachen die Bestandsaufnahme

Von Pia Ratzesberger

Vor einigen Jahren hing das Schild noch an so manchen Türen, in den ersten Tagen im Januar. "Wegen Inventur geschlossen", war darauf zu lesen, während drinnen hinter den Fensterscheiben die Mitarbeiter Titel für Titel verzeichneten: dreimal Thomas Mann, zwei Exemplare Manhattan Transfer von John Dos Passos, noch eine Ausgabe von Milan Kunderas Scherz. Inventur, das bedeutete früher einmal, den Laden zusperren und nachzählen. Heute aber schließt in München kaum noch ein Geschäft, und das nicht nur, weil das Zählen so viel einfacher geworden ist.

Das Ende des Jahres ist eine Zäsur, zu der sich manch einer in der eigenen Wohnung fragt, was er im vergangenen Jahr angehäuft hat, was abhanden gekommen ist, was weg und was bleiben soll. Vor der persönlichen Inventur kann man sich im Zweifel drücken, Unternehmer aber sind gesetzlich dazu verpflichtet, nach Paragraf 240, Handelsgesetzbuch. "Jeder Kaufmann" steht dort, hat sein Vermögen und seine Schulden zu verzeichnen, sobald er ein Gewerbe gründet, übernimmt oder schließt, sowie zum Ende eines jeden Geschäftsjahres. Meist ist das der 31. Dezember, was aber nicht heißen soll, dass die Inventuren auch an diesem Tag stattfinden.

Fragt man bei den Münchner Kaufleuten nach, hat die Inventur - vom lateinischen invenire, "finden" - mit dem 31. Dezember noch kaum einer hinter sich gebracht. In den Wochen um das Jahresende machen die Einzelhändler mit den größten Umsatz der gesamten 365 Tage, wenn die Münchner ihr Weihnachtsgeld verprassen und Gutscheine einlösen, will niemand freiwillig sein Geschäft schließen. Dieser Umsatz soll noch mit in die Bilanz fließen, die Händler zählen also erst nach, wenn der Trubel vorüber ist.

Bei der Glockenbuchhandlung in der Hans-Sachs-Straße zum Beispiel werde man die Inventur erst im Laufe des Januars angehen, sagt Inhaberin Petra Schulz, beim Schuh Bertl in der Kohlstraße ist das ähnlich, man will an einem Sonntag nachzählen. Beim Schrauben-Preisinger in der Utzschneiderstraße mit den deckenhohen Regalen voller Dübel und Schrauben ist ohnehin das ganze Jahr über Inventur: Alle Artikel werden bei der Lieferung erfasst, denn mit mehr als 48 000 Kleinteilen wäre es an einem Tag nicht möglich, den ganzen Bestand zu dokumentieren. "Wir müssen nur noch die Artikel zählen, die mehrere Jahre nicht mehr bewegt worden sind, das sind aber meist nur um die 200", heißt es im Geschäft nahe dem Viktualienmarkt.

Computer vereinfachen die Inventur immens, die elektronischen Warensysteme und Lesegeräte, auch deshalb schließen viele Geschäfte nicht mehr, die Prozedur dauert nicht mehr so lang wie früher. Im Galeria Kaufhof am Marienplatz zum Beispiel sind Mitarbeiter immer wieder mit Handscannern unterwegs, jede Abteilung wird zweimal innerhalb eines Jahres durchgezählt, an normalen Geschäftstagen, wenn der Laden offen ist. "Im Regelfall sind wir schon am Vormittag damit durch", sagt Geschäftsführer Thomas Seybold. Der Kunde kriegt von dieser Zählerei nichts mit, viele Geschäfte führten die Inventur auch erst nach Ladenschluss durch, sagt ein Sprecher der Industrie und Handelskammer für München und Oberbayern. Handwerksbetriebe hätten ihre Lager in den vergangenen Jahren zudem mehr und mehr verkleinert, heißt es bei der Handwerkskammer München, eine Heizungsfirma zum Beispiel lagere keine Heizkessel mehr ein, sondern hole das Material direkt beim Großhandel ab oder lasse es zur Baustelle liefern. Weniger Ware im Lager, also: weniger Arbeit mit der Inventur.

Dass kaum ein Laden schließt, am 31. Dezember noch kaum jemand nachzählt, ist auch dem Handelsgesetzbuch geschuldet. Das gibt mehrere Möglichkeiten vor, wann ein Laden zählt, wiegt oder misst. Die permanente Inventur, zum Beispiel wie im Schraubenladen, läuft das gesamte Jahr, bei der Stichtagsinventur aber bleibt zehn Tage vor und nach dem jeweiligen Termin Zeit, bei der verlegten Inventur sogar drei Monate vorher und zwei Monate danach. Bei der sogenannten Stichprobeninventur wird nur ein Teil erfasst und das große Ganze mithilfe der Statistik ermittelt. Nicht jeder kann sich die Art von Inventur aussuchen, die ihm passend erscheint, das Finanzamt gibt gewisse Kriterien vor, je nach Bestand und je nach Buchführung.

Das wiederum ist dann doch ein Vorteil der persönlichen Inventur: Wann man die vornimmt, entscheidet nicht das Finanzamt, sondern alleine man selbst. Wobei die permanente Inventur wohl die beste wäre.

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