Süddeutsche Zeitung

Interview:"Uns ging es darum, das Leben der Geiseln zu retten"

Der ehemalige bayerische Innenminister Bruno Merk über die missglückte Befreiung der israelischen Sportler.

Ernst Fischer und Christian Mayer

Steven Spielberg erinnert mit seinem Film "München" an die schrecklichen Ereignisse vom 5. September 1972 während der Olympischen Spiele. Im Mittelpunkt steht der Rachefeldzug der Israelis gegen Palästinenser, vor allem gegen die Hintermänner des Attentats. Aber er zeigt auch - am Anfang und in mehreren Rückblenden - die Geschehnisse im Olympiadorf und in Fürstenfeldbruck. Die SZ schaute sich zusammen mit dem damaligen bayerischen Innenminister Bruno Merk den Film an und sprach mit ihm darüber. Merk hatte 1972 mit Außenminister Hans-Dietrich Genscher und Münchens Polizeipräsident Manfred Schreiber den Krisenstab geleitet.

SZ: Herr Merk, war es ungefähr so, wie Spielberg die Ereignisse in München und Fürstenfeldbruck schildert?

Merk: Die nachgestellten Szenen des Films entsprechen, soweit wir das damals beobachten konnten, dem tatsächlichen Geschehen. Mir waren jedenfalls die Zusammenhänge sofort wieder gegenwärtig - Bilder, die mir in der Erinnerung kein Vergnügen bereiten. Den Film finde ich aber trotzdem gut.

SZ: Weil der Film zum ersten Mal auch Hintergründe und Folgen des Attentats schildert?

Merk: Alle Filme, die bisher über das Olympia-Attentat gedreht wurden, gingen von Vorurteilen aus. Immer wieder ging es um das Versagen der deutschen Polizei. Spielberg verzichtet auf Schuldzuweisungen an die deutschen Behörden; er zeigt stattdessen am Beispiel seiner Hauptfigur (eines israelischen Terroristen-Jägers) die zerstörerische Spirale der Gewalt.

SZ: Inwiefern ändert Spielbergs Film die Sicht der Dinge?

Merk: 1972 hat man sich begnügt, das als schuldhaft bewertete Unvermögen der Polizei bei dem Versuch der Geiselbefreiung festzustellen. Es wurden Klagen erhoben und später Schadenersatzforderungen geltend gemacht. Ungeachtet der Tatsache, dass auf freiwilliger Basis beachtliche Zahlungen geleistet worden sind. Niemand hat damals erkannt, was heute jeder weiß: dass es keine absolute Sicherheit gegen terroristische Anschläge gibt. Dass man sich gleichwohl gegen sie schützen muss, ist selbstverständlich.

SZ: Deutschland war damals miserabel vorbereitet auf so ein Attentat.

Merk: Das Sicherheitskonzept war mit den teilnehmenden Nationen abgestimmt. Besonders intensiv mit den Israelis. Alle Forderungen waren erfüllt. Konkrete Hinweise auf mögliche Anschläge gab es nicht. Leider hat die israelische Mannschaft die zu ihrer Sicherheit getroffenen Regelungen nicht beachtet. Dazu gehörte auch, die Türen stets verschlossen zu halten. In der Nacht vom 4. auf den 5. September waren wohl die meisten zu einer Veranstaltung in der Stadt ausgegangen. Sie kamen in zeitlichen Abständen zurück und haben darauf verzichtet, die Türen zu schließen. Das kann man nicht der Polizei anlasten.

SZ: Ist bei den Vorbereitungen der Olympischen Spiele in München nie über die Möglichkeit diskutiert worden, dass ein Terroranschlag geschehen könnte?

Merk: Doch, natürlich. Sonst hätten wir gar keine Sicherheitsmaßnahmen vorbereiten müssen. Aber kein Mensch konnte sich vorstellen, wie ein Terroranschlag laufen könnte. Das Bayerische Innenministerium hat ja gegen den Willen des Olympischen Organisationskomitees durchgesetzt, dass die interne Sicherung nicht durch aktive Mitglieder deutscher Sportverbände geleistet wird. Wir haben dann verkleidete Polizisten aus Einheiten der Bundesländer eingesetzt, um die Sicherheit zu gewährleisten.

SZ: Dem Krisenstab wurde später vorgeworfen, er habe sich das Gesetz des Handelns aus der Hand nehmen lassen.

Merk: Das ist ein schwachsinniger Vorwurf! Wir kannten weder die Zahl der Angreifer noch die Zahl der Geiseln. Wir waren konfrontiert mit ultimativen Forderungen der Geiselnehmer, deren Drohungen ernst zu nehmen die Israelis uns geraten haben. Wir hatten ja ziemlich bald über den israelischen Botschafter Kontakt zur israelischen Regierung, die uns unmissverständlich eines klar machte: Es würde von israelischer Seite keinerlei Zugeständnisse geben.

SZ: Stimmt es, dass die Israelis von Ihnen verlangt haben, die Geiselnehmer auf keinen Fall ausreisen zu lassen und die Befreiung der Geiseln hier zu versuchen?

Merk: Nein, das hat keiner verlangt. Die Israelis haben uns geraten, Zeit zu gewinnen. Es gab auch kein Angebot, ein israelisches Befreiungskommando nach München zu entsenden. Das hätte am gleichen Tag auch gar nicht zum Einsatz kommen können.

SZ: Sie konnten nur noch versuchen, zu verhandeln und Zeit zu gewinnen, was misslang.

Merk: Die Terroristen wollten von Anfang an ein Ende ihrer Aktion in München noch am gleichen Tage erzwingen. Auf keinen Fall wollten sie riskieren, dass israelische Spezialeinheiten zeitlich Gelegenheit zu einem Einsatz erhalten. Der Grund dafür war wohl sicher der missglückte Anschlag von Palästinensern auf eine Sabena-Maschine (am 9. Mai 1972) in Tel Aviv. Israelische Kräfte waren uns aber weder angeboten, noch von uns angefordert worden.

SZ: Und dann gab es den Druck des IOC, namentlich durch Avery Brundage, der seine Spiele retten wollte...

Merk: Nun, das hat uns wirklich nicht interessiert. Brundage kam zwar zu uns in den Krisenstab, weil er glaubte, er sei immer noch Herr der Lage. Wir haben seine Haltung, dass die Spiele weitergehen müssten, zur Kenntnis genommen, aber Herrn Brundage wieder hinauskomplimentiert. Ob die Spiele weiter gehen oder nicht, war uns in diesem Moment egal. Uns ging es nur darum, dass Leben der Israelis zu retten.

SZ: Wann hat sich das Drama dann entscheidend zugespitzt?

Merk: Gegen 17 Uhr erhoben die Terroristen plötzlich die Forderung, binnen zwei Stunden ausgeflogen zu werden. Die Geiseln seien damit angeblich einverstanden, erklärten sie. Damit war alles, was bisher an Einsatzmöglichkeiten geplant und vorbereitet war, auf einen Schlag Makulatur. Jetzt musste, wieder unter unglaublichem Zeitdruck, völlig neu geplant werden. Zur Minimierung der Risiken wollte der Krisenstab den Zugriff zur Befreiung der Geiseln starten, sobald die Terroristen mit ihren Geiseln den Unterkunftsbereich verlassen, also in den Katakomben des olympischen Dorfes. Nur hilfsweise sollte ein Einsatz in Fürstenfeldbruck vorbereitet werden.

SZ: Sie mussten damit rechnen, dass die Geiselnehmer die Hubschrauber nach Riem dirigieren könnten.

Merk: Sicher, auch damit mussten wir rechnen. Es galt, innerhalb der dann auf vier Stunden verlängerten Frist Einsatzplanung, Bereitstellung und Einweisung von Kräften für verschiedene Einsatzorte zu bewältigen. Selbst mit erfahrenen Kräften, die es damals nicht gab, wäre ein Einsatz unter solchen Bedingungen angesichts der Entschlossenheit der Attentäter nicht unblutig verlaufen.

SZ: So etwas wie die GSG 9 gab es seinerzeit nicht?

Merk: Natürlich nicht. Die Diskussion um den finalen Schuss (Nach einem Banküberfall mit Geiselnahme in München, d. Red.) war noch in vollem Gang. Automatische Waffen für die Polizei waren immer noch verpönt, und geschlossene Einsätze zum Niederkämpfen terroristischer Anschläge standen noch nicht einmal konzeptionell in den Ausbildungsplänen für die Polizei.

SZ: Die Attentäter wollten nach Kairo ausgeflogen werden. Dort wollten sie angeblich die Geiseln freilassen. Sie gingen zum Schein darauf ein.

Merk: Es gab keine Zusage aus Ägypten, auch wenn das später einmal behauptet wurde. Auch andere arabische Staaten erklärten nur, sie wollten mit der Sache nichts zu tun haben.

SZ: Dem Krisenstab und der Polizei wurde nach dem Attentat vorgeworfen, der Einsatz in Fürstenfeldbruck sei stümperhaft gewesen. Zu wenig Scharfschützen, keine Koordinierung. . .

Merk: Also, fehlende Ausbildung und Erfahrung der Polizei zum Vorwurf zumachen, ist einfach unfair. Die GSG 9 und andere Spezialkräfte wurden erst als Konsequenz von München aufgestellt und trainiert. Im Übrigen ist es entweder bösartig oder wirklichkeitsfremd, zu behaupten oder zu glauben, die Polizei müsse im Kampf gegen Verbrecher immer siegen, sofern sie keinen Fehler mache. Es gibt weltweit genügend Beispiele, die das Gegenteil beweisen, sogar bei den Israelis, denen man wirklich Können und Erfahrung im Anti-Terror-Kampf bestätigen muss.

SZ: Sie haben nach den Ereignissen Ihren Rücktritt als Innenminister angeboten. War das ein Schuldeingeständnis?

Merk: Nein, das war die persönliche Konsequenz eines misslungenen Rettungsversuchs. Ich hatte die verfassungsrechtliche Verantwortung. Es blieb keine andere Wahl - aber Ministerpräsident Goppel hat das Rücktrittsgesuch nicht angenommen.

SZ: Das Attentat von München war also eine nicht zu voraussehende neue Dimension des damals wachsenden internationalen Terrors?

Merk: Nehmen sie die Anschläge vom 11. September in Amerika vor nunmehr gut vier Jahren. Amerika war völlig überrascht. Vier Flugzeug konnten zeitgleich gekidnappt werden. Sogar die Ausbildung als Flugzeugführer hatten die Attentäter in den USA gemacht. Heute weiß jeder, dass niemand Anschläge mit Sicherheit verhindern kann. Diese Erkenntnis muss endlich auch für München gelten.

SZ: Welche Schlüsse ziehen Sie heute aus dem Attentat von München - und aus dem Spielberg-Film?

Merk: Rächende Gewalt ist keine Lösung. Auch der Krieg gegen den Terror kann diesen nicht besiegen, solange nicht mit mindestens gleicher Energie versucht wird, die Quellen zum Versiegen zu bringen, aus denen er seine Kräfte bezieht. 1972 hat man es versäumt, nach Ursachen des Anschlags zu fragen. Man war zufrieden, die Schuld für den Tod der Geiseln zu klären. Dass dabei auch noch an den Holocaust erinnert wurde (Es gab Schlagzeilen wie: "Wieder tote Juden auf deutschem Boden", Anm. d. Red.) war geschmacklos. Es wäre besser gewesen, den Ursachen nachzugehen und Konsequenzen zu ziehen. Vielleicht hätte das der Welt die dramatische Eskalation des Terrors ersparen können.

SZ: Sie finden, der Westen konzentriert sich immer noch zu einseitig auf den Kampf gegen den Terror mit gewaltsamen Mitteln, mit Krieg?

Merk: Ja. Aber Terror ist doch kein Zeitvertreib gelangweilter Zeitgenossen. Er hat Ursachen. In der Regel ist er der letzte Ausweg für Menschen, die sich - zu Recht oder zu Unrecht - hilflos, rechtlos und verlassen fühlen, aber nicht resignieren. Der aus dem Gefühl der Ohnmacht wachsende Hass schlägt bei Ihnen dann in blinde Gewalt um.

SZ: Und München war ein erster, trauriger Höhepunkt in dieser Entwicklung.

Merk: Seit den 60er Jahren hat sich der Terrorismus erkennbar verschärft und gesteigert - sowohl in der Wahl seiner Mittel wie in der Brutalität seiner Ausführung. Das Münchner Attentat war ausgelöst durch die schon zu lange schwelenden Probleme zwischen Israel und Palästina. Bis heute hat man sich damit begnügt, nach der Schuld an dem Tod der israelischen Sportler zu fragen, und war zufrieden, sie bei der deutschen Polizei festmachen zu können. Dass sich die Polizei damals in der Lage eines biederen Landarztes befand, der plötzlich eine schwierige Notoperation vornehmen soll, hat niemand interessiert.

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Quelle:
SZ vom 20.1.2006
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