Interview mit Inge Jens:Bausteine eines Lebens

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Schriftstellerin Inge Jens spricht darüber, was sie prägt, wen sie bewundert und wie sie mit der Demenz ihres Mannes Walter umgeht.

Eva-Elisabeth Fischer

Inge Jens hat wenig Zeit. Sie muss einen Mittagsschlaf halten, denn auch an diesem Abend steht wieder eine Lesung an. Sie will es also schnell hinter sich bringen, dieses Telefoninterview, und formuliert deshalb ein wenig unduldsam - mit 82 darf man das -, aber dennoch druckreif ihre Gedanken.

Autorin Inge Jens hat ihr Leben niedergeschrieben. (Foto: Foto: dpa)

Die Herausgeberin der Briefe von Thomas Mann, der Aufzeichnungen der Geschwister Scholl und Willi Grafs hat kürzlich unter dem Titel "Unvollständige Erinnerungen" ihr Leben aufgeschrieben und veröffentlicht (Rowohlt, 317Seiten, 19,90Euro). Das letzte, das 13.,Kapitel ist ganz ihrem Ehemann Walter Jens und den Veränderungen auch ihres Lebens durch seine Altersdemenz gewidmet. Inge Jens liest heute um 20Uhr im Atrium der Hypo-Vereinsbank (Kardinal-Faulhaber-Straße; bereits ausverkauft).

SZ: Wovon hängt die frühe Politisierung eines Menschen ab? Sie beschreiben sich ja als sehr naives junges Mädchen. Ist es eine Frage des Elternhauses oder doch eher die von wacher Wahrnehmung?

Inge Jens: Sicherlich beides. In erster Linie ist es eine Frage der Umgebung des Kindes. Ein Kind kann aus sich heraus, ohne Primärerlebnisse, nicht politisch denken. Ohne gesehen zu haben, wie Juden misshandelt und abgeholt wurden, hätte ich nicht fragen können. Wenn ich das gesehen hätte, hätte ich gefragt. Da ich es nicht gesehen habe, habe ich auch nicht gefragt, und in meinem Elternhaus ist über dergleichen ja auch nicht diskutiert worden.

SZ: Sie streifen die Tatsache, dass Ihr Vater bei der SS war, lediglich. Das liest sich merkwürdig unbeteiligt. Die SS, das war doch schließlich kein feinsinniger Herrenclub.

Jens: Mein Vater war ja nicht hauptamtlich bei der SS, genauso wenig wie ich hauptamtlich beim BDM war. Er war Chemiker, Leiter einer chemischen Fabrik.

SZ: Ihr Vater hat sich bewusst für die SS entschieden. Sie hingegen sind in den BDM hineingewachsen.

Jens: Mein Vater hat sich bewusst für die SS entschieden, weil er mit seiner Jugendgruppe geschlossen in deren Nachrichtenabteilung unterkam.

SZ: Warum haben Sie ihn nie darüber befragt?

Jens: Wenn ich es wüsste, hätte ich es geschrieben. Zum Teil sicherlich, weil ich nicht mehr zu Hause war und einen anderen Standpunkt fand. Ich habe mit Gleichaltrigen diskutiert, aber nicht mit meinen Eltern.

SZ: Hat Ihnen der Unterschied Inge Puttfarcken - Sophie Scholl zu schaffen gemacht? Wenn ja, warum?

Jens: Ja, natürlich. Denn anhand meiner Dokumentation der Weißen Rose bin ich aufgewacht. Ich habe gesehen, dass es nur unwesentlich ältere Menschen gegeben hat, die diese Zeit völlig anders erlebt haben als ich.

SZ: Sie schreiben in Ihren "Unvollständigen Erinnerungen" nichts über die Umstellung von Hamburg nach Tübingen. Hatten Sie niemals Angst vor der Provinzialisierung durch den Umzug in eine kleine Stadt?

Jens: Daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Ich war neugierig auf das Neue, das mich dort erwartete.

SZ: Wann wurde für Sie das geistige Klima Ihrer Umgebung wichtig?

Jens: Ich denke, ich habe die ersten wichtigen Auseinandersetzungen mit der Hamburger Studentengemeinde erlebt und dann in Tübingen, in meiner neuen, ganz anderen Umgebung. Und natürlich durch Lektüre, durch die Bücher, die mir mein späterer Mann damals zu lesen gab. Ich durfte seine Bibliothek benutzen, erlebte eine Neuorientierung und gewann neue Erkenntnisse.

SZ: Inwieweit sind Sie vom Protestantismus geprägt, auch wenn Sie an einer Stelle schreiben, dass Ihnen religiöse Rituale nichts bedeuten? Sie berichten ergriffen von einem Abendmahl in Mutlangen.

Jens: Ich denke, um von einer Szene wie im Ulmer Münster ergriffen zu sein, braucht es keinen kirchenfrommen Protestantismus. Der Protestantismus ist die Atmosphäre, in der ich groß geworden bin, meine Eltern waren protestantisch, Hamburg war protestantisch.

SZ: Was ist wichtiger: Religion oder Ethik?

Jens: Ethik ohne Religion ist kaum möglich. Um ethisch handeln zu können, muss ich einen Standpunkt haben. Die Konfession spielt keine Rolle, aber die Verankerung in einer Religion.

SZ: Was haben Sie aus den Übungen für einen gewaltlosen Widerstand über den Umgang mit Menschen gelernt? Denn darüber schreiben Sie nichts in Ihren Erinnerungen.

Jens: Ich denke, es wird klar in dem, wie ich das Folgende beschreibe. Das selbstverständliche Eintreten eines Menschen für den anderen, das ist mir nicht unvertraut gewesen. Aber dass man es in einem so großen Rahmen erleben kann, habe ich bis Mutlangen nicht gewusst.

SZ: Sie haben immer wieder mit widerständigen Christen kooperiert, unter anderen mit Friedrich Schorlemmer in der DDR. Welche Bedeutung hatte das Bekenntnis zum aktiven Christentum in Ihrer Arbeit?

Jens: Ich habe die Christen in der DDR sehr zu bewundern gelernt, denn es kostete sie unglaublich viel mehr, sich zu ihrem Glauben zu bekennen, als Christen im Westen. In der Bundesrepublik gehörte kein Mut dazu, sich christlich zu bekennen, in der DDR konnte das erhebliche Konsequenzen nach sich ziehen. In der Bundesrepublik war es selbstverständlich, dass der Pfarrer neben einem Präsidenten in der ersten Reihe saß. In der DDR allenfalls in der letzten, wenn er denn überhaupt sitzen durfte.

SZ: Warum ist die Friedensbewegung heute so wenig präsent? Warum geht Widerstand heute als business as usual im Alltag unter?

Jens: Vielleicht, weil wir so lange in Friedenszeiten gelebt haben, weil der heutigen Generation Gott sei Dank nicht bewusst sein muss, was Krieg ist. Es ist leichter, sich aufgrund eines persönlichen Erlebnisses zu engagieren als durch Nachrichten oder Lektüre.

SZ: Welchem Umstand verdanken Sie die Gabe, auch das Finstere, etwa die Demenz Ihres Mannes, am Ende licht und hell zu betrachten?

Jens: Vielleicht den Erfahrungen in meiner Kindheit. Und - auch wenn mein Mann das vermutlich anders empfindet, wenn er es denn überhaupt noch merken kann, - einem Gefühl der Dankbarkeit meinem Schicksal gegenüber, das es 75Jahre lang gut mit mir gemeint hat. Da habe ich kein Recht, mich zu beschweren, zu klagen und meiner Umwelt zur Last zu fallen.

SZ: Sind Sie ein optimistischer Mensch?

Jens: Ich bin ein lebenszugewandter Mensch.

SZ: Ihre Autobiographie heißt "Unvollständige Erinnerungen". Womit würden Sie das Buch, da es nun erschienen ist, gern ergänzen, um es vielleicht doch zu vervollständigen?

Jens: Wenn Sie mein Vorwort gelesen hätten, dann wüssten Sie, warum ich keine vollständigen Erinnerungen schreiben wollte. Sie sollen unvollständig bleiben.

© SZ vom 29.07.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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