Integration im Kindergarten: "Angst ist ein Killer fürs Selbstvertrauen"

Flüchtlingskind Muhammad ist inzwischen gut in den Kindergarten in Haidhausen integriert.

Die Kinder und Erzieherinnen um Sabine Beha sind wahre Stützen für Muhammad in München geworden.

(Foto: Robert Haas)

Ein Kindergarten in Haidhausen hat vor zweieinhalb Jahren ein Flüchtlingskind aufgenommen. Heute ist Muhammad ein Teil der Gruppe - die Geschichte seiner Integration.

Von Jakob Wetzel

Am Anfang sei Angela Merkels "Wir schaffen das" gewesen, erzählt Christoph Oellers. Sie hätten in ihrer Elterninitiative darüber diskutiert, ob sie nicht selber dazu beitragen könnten, dass die Integration der vielen nach Deutschland kommenden Flüchtlinge gelingt. Mehrere Eltern seien skeptisch gewesen, sagt er, es gab Ängste und eine lebhafte Debatte. Am Ende aber waren sie sich einig. Sie haben es gewagt. Und für Oellers, den Vorsitzenden der Elterninitiative, ist klar: Sie haben es auch geschafft.

Der "Kindergarten im Hof", eine Elterninitiative in Haidhausen, hat vor zweieinhalb Jahren den kleinen Muhammad aufgenommen, ein Flüchtlingskind aus Afghanistan. Der Bub lebt mit seinen Eltern und zwei älteren Geschwistern in einer Gemeinschaftsunterkunft an der Pariser Straße. Unter der Woche aber hat ihn sein Vater jeden Morgen in den Kindergarten in einem Hinterhof an der Einsteinstraße gebracht. Muhammad hat dort Normalität erlebt, Freunde gefunden und Deutsch gelernt. Mittlerweile ist er sechs Jahre alt, von September an geht er in die Grundschule. Seine Geschichte erzählt davon, was Integration im Kleinen bedeuten kann.

Es ist ein Mittwochmorgen. Die Kinder sitzen im Kreis, in der Früh zählen sie immer erst einmal durch, ob alle da sind, erst auf Deutsch, dann in einer Fremdsprache. Mittwochs ist Französisch dran, und an diesem Tag ist Muhammad an der Reihe. Er sucht sich einen Spielkameraden aus, und gemeinsam zählen sie: "Un, deux, trois", sagen sie, bis "vingt et un", 21. Dann diskutieren die Kinder gemeinsam, was sie machen wollen. Und sie beschließen, dass sie das doch am besten draußen klären, es sei doch so schönes Wetter.

Der "Kindergarten im Hof" setzt auf Partizipation: Es gibt nur eine Gruppe, und die Drei- bis Sechsjährigen entscheiden selbst, was sie unternehmen wollen und welche Regeln sie sich geben. Es ist kein ganz normaler Kindergarten - und ein Flüchtlingskind aufzunehmen, sei für eine Elterninitiative auch ein eher außergewöhnliches Projekt, heißt es im Münchner Bildungsreferat. Eine solche Initiative gründe sich ja vor allem, um die eigenen Kinder zu versorgen.

Genaue Zahlen gibt es indes nicht. Wie viele Flüchtlingskinder in der Stadt in Elterninitiativen betreut werden, wird nicht erfasst. Insgesamt decken Initiativen laut Bildungsreferat derzeit 3162 von insgesamt 44 150 Kindergartenplätzen in München ab, das entspricht etwa sieben Prozent. Die Zahl der Flüchtlingskinder sei darunter aber wohl überschaubar, heißt es vom Kleinkindertagesstättenverein, der Elterninitiativen unterstützt und berät. Im Jahr würden sich jeweils nur etwa zwei Dutzend Initiativen mit Fragen zu einer solchen Aufnahme melden, sagt die zuständige Fachberaterin Stephanie Haan.

Dazu kämen gewiss Initiativen, die keine Hilfe brauchen und sich deshalb nicht rühren. "Es ist kein Problem, ein Flüchtlingskind aufzunehmen", sagt Haan. Auch finanziell gebe es genügend Möglichkeiten, eine Förderung zu beantragen, man helfe gerne weiter. Doch sie kenne auch die Bedenken: Manche Eltern fürchten den Aufwand. Andere haben Angst, die eigenen Kinder könnten zu kurz kommen, wenn ein anderes, möglicherweise traumatisiertes Kind viel Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Im "Kindergarten im Hof" sei die Debatte nicht anders gewesen, erzählt Christoph Oellers. In der Auseinandersetzung ging es nicht ums Geld: Die Beiträge für Muhammad habe ja die Stadt übernommen, seine Eltern hatten kein Einkommen. Aber vieles andere war unklar. Was, wenn die Familie abgeschoben wird? Was, wenn Muhammads Eltern als Flüchtlinge anerkannt werden und in eine andere Stadt ziehen wollen? Würden sich die Eltern überhaupt in die Pädagogik und in den Alltag im Kindergarten einbringen wollen, wie es dem Konzept einer Eltern-Initiative entspricht? Und würden die Eltern bei der Auswahl mitreden können, oder würde ihnen einfach ein Kind zugewiesen?

"Viele hatten Angst, dass uns das Heft aus der Hand genommen wird", sagt Oellers. Es habe geholfen, dass sich eine Mutter sowieso stark in der Flüchtlingshilfe engagierte und Kontakte zu Unterkünften hielt. Und zumindest diese eine Sorge war unbegründet: Muhammads Eltern kamen zum Aufnahmegespräch, so wie alle anderen Eltern auch. Die Entscheidung, den Buben aufzunehmen, traf der Vorstand einstimmig.

"Der wollte, dass es passt, dass er keine Sonderrolle hat."

Heute sei Muhammad ganz selbstverständlich Teil der Gruppe, sagt Claudia Franz, die Leiterin des Kindergartens. Anfangs aber war es schwierig. Muhammad konnte kein Deutsch, die Eltern waren verschlossen und erzählten nicht, was sie erlebt hatten. Im Kindergarten wusste niemand recht, was in dem Kind vorging. Und dann war der Bub einfach da, ganz alleine. Es sei viel Wut und Verzweiflung in Muhammad gewesen, sagt Franz. Aber er habe schnell Vertrauen gefasst.

Die Erzieher kommunizierten mit Muhammad und seinen Eltern anfangs mit Hilfe von Symbolen. Speisen ohne Schweinefleisch, die er essen durfte, markierten sie mit kleinen Afghanistan-Fähnchen. Den Wochenplan erklärten sie dem Vater mit kleinen Zeichnungen. Rasch gründete die Elterninitiative ein eigenes Integrationsamt, um die Familie besser einzubinden. Und es habe geholfen, dass der Kindergarten nur eine Gruppe habe, noch dazu eine eher kleine, glaubt Franz. So habe man viel Zeit für Muhammad gehabt. Und er habe sich bald verständigen können.

Und so habe man sich immer näher aneinander herangetastet, erzählen Oellers und Franz. Die Erzieher lernten, dass es für eine afghanische Familie etwas sehr Besonderes ist, schwimmen zu gehen. Die Kinder besuchten Muhammad in der Unterkunft, der afghanische Bub kam umgekehrt zu ihnen nach Hause. Und auch über die Brotzeiten habe man sich mit der Zeit verständigt. Im Kindergarten gilt die Regel, dass die Kinder keine Süßigkeiten mitnehmen dürfen: Es gebe sonst Neid und Streit, außerdem sei es ungesund, sagt Franz. Für Muhammads Eltern aber sei es anfangs geradezu undenkbar gewesen, ihrem Sohn keine Süßigkeiten einzupacken. "Ich weiß nicht, wie oft wir diskutiert haben, was eine Süßigkeit ist und was nicht", sagt Franz.

Am Ende habe sich Muhammad mit seinem Vater gestritten. "Der wollte, dass es passt, dass er keine Sonderrolle hat." Die Eltern selber fassten mit der Zeit ebenfalls Vertrauen. Anfangs hielten sie sich sehr zurück. Dann aber kam Muhammads Vater mit der Zeit zu den Elternabenden. Und mittlerweile bleibe er morgens auch gerne noch auf einen Ratsch, erzählt Franz. Muhammad selber durfte zuletzt fünf Tage lang mit dem Kindergarten auf einen Bauernhof fahren, ganz alleine.

"Wir sind zwar eine Eltern-Initiative, aber das heißt nicht nur, dass es uns um die eigenen Kinder geht", sagt Oellers. Es sei auch eine Chance für die Integration: "Wir können nicht nur die Kinder aufnehmen, sondern auch die Eltern." Und in den vergangenen Jahren hätten sie gemerkt, dass sie das schaffen können, dass sie davor keine Angst haben müssen. "Angst ist ein Killer fürs Selbstvertrauen", sagt Oellers. Wenn Muhammad erst in der Schule ist, wollen sie deshalb bald ein weiteres Flüchtlingskind aufnehmen, sagt er. Man wolle dranbleiben, damit auch die nachrückenden Eltern diese Erfahrung machen können, sagt er. Sonst gingen die Diskussionen beim nächsten Flüchtlingskind wieder von vorne los.

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