Süddeutsche Zeitung

Integration:Die Lern- und Hausaufgabenhilfe von Bellevue di Monaco feiert Jubiläum

Lesezeit: 3 min

Migranten üben dort seit einem Jahr, Deutsch zu lesen und zu schreiben. Das Angebot wird von Ehrenamtlichen organisiert - kostenlos und ohne starre Strukturen.

Von Thomas Anlauf

Die Tür zur Bildung steht weit offen. Die Oktober-Sonne scheint mild in den Raum, doch die 16 Menschen, die hier gemeinsam um einen großen Tisch oder am Rand vor Computerarbeitsplätzen sitzen, haben gerade keinen Blick für das schöne Wetter draußen. Da ist zum Beispiel der Mann mit ein paar grauen Strähnen im Haar. Gerade hat er fein säuberlich eine Bewerbung geschrieben. "Sehr geehrte Damen und Herren, ich habe Ihre Anzeige gelesen. Ich komme aus dem Irak. Ich lebe seit 2001 in München." Der gelernte Koch ist zum ersten Mal hier und ist begeistert von seiner Übungsstunde. "Ich habe schon andere Deutschkurse gemacht. Aber da kam oft ein Lehrer auf 20 Schüler. Hier haben wir einen Lehrer pro Schüler", sagt er. In der Lern- und Hausaufgabenhilfe von Bellevue di Monaco zeigen ihm Ehrenamtliche nun, wie er Bewerbungen richtig formuliert.

Jürgen Moser sitzt gerade neben ihm, die beiden gehen das Alphabet durch. H wie Heinrich, L wie Ludwig, P wie Paula und so. Moser, ein Mann mit langem Bart, ist einer von den Helfern der ersten Stunde. Vor einem guten Jahr saß der Sozialarbeiter beim Infotreffen der Sozialgenossenschaft Bellevue di Monaco an der Müllerstraße, die seit ihrer Gründung 2015 längst zu einer wichtigen Institution in der Flüchtlingsarbeit geworden ist. Es ging beim Treffen im vergangenen Jahr um Sprachpatenschaften, darum, Geflüchtete regelmäßig zu treffen, mit ihnen zu sprechen oder auch mal einen gemeinsamen Ausflug zu unternehmen. Das war nicht so sehr Jürgen Mosers Sache, also fragte er, ob man nicht auch anderweitig helfen könnte, geflüchteten Schülern bei den Hausaufgaben zu helfen etwa. Spontan meldeten sich zehn Freiwillige, die mitmachen wollten.

Die neuen Helfer hatten Glück: Das Münchner Wikipediabüro an der Angertorstraße stellt ihnen seine die Räume täglich einige Stunden zur Verfügung. Wer mit den Helfern lernen will, kann einfach vorbeikommen - ganz ohne Anmeldung. Die Ehrenamtlichen wiederum tragen sich im Internet in eine Liste ein, wann sie Zeit haben. Das System funktioniert. In diesem Oktober waren oft zehn oder mehr Gäste da und fast ebenso viele Helfer. Manche Freiwillige haben sich bisher an mehr als 100 Tagen engagiert. Und Jürgen Moser saß in den vergangenen zwölf Monaten nur zwei Mal im Büro, ohne dass ein Lernwilliger kam.

Das Prinzip der Freiwilligkeit für beide Seiten findet auch Elisabeth Reisbeck ideal. "Man muss sich nicht auf einen bestimmten Tag festlegen", sagt sie. Eine Freundin hatte ihr von der Lernhilfe erzählt. Bis vor zwei Jahren arbeitete Reisbeck noch, jetzt aber hat sie trotz ihrer fünf Enkelkinder gut Zeit für die Lernhilfe: "Mir macht das auch Freude."

Elisabeth Reisbeck sitzt an diesem Nachmittag nicht einfach zwei Stunden lang mit einem der Lernenden am Tisch, sondern schaut mal hier, mal dort, wo sie helfen kann. Da ist die ältere Frau, sie ist über ein Buch gebeugt, die aufgeschlagene Seite zeigt Bilder von Verletzungen. "Notfälle" steht über dem Kapitel. Elisabeth Reisbeck erklärt geduldig das Wort "Armbruch". Die Frau lernt offenbar nicht für eine Prüfung, sondern will im Alltag besser zurecht kommen. Später liest der Mann aus Kirkuk Elisabeth Reisbeck einen ziemlich anspruchsvollen Text vor. "... hebt überrascht die Augenbrauen", liest er. Nur ganz selten muss die Helferin ein Wort erklären. Als er bei "dröhnen" fragend aufblickt, sagt Elisabeth Reisbeck: "Das ist laut." Und sie hält sich die Hände an die Ohren. Verstanden.

Es ist eine ziemlich gemischte Gruppe aus Helfern und Lernenden. Die Freiwilligen sind meist älter als ihre Gäste, und sie kommen aus allen sozialen Schichten, wie Jürgen Moser erzählt. Er sitzt gerade mit zwei jungen Afghanen beim Mathelernen, die jungen Männer sprechen manchmal leise auf Sari miteinander, wenn einer der beide Moser nicht ganz folgen kann. Es ist auch nicht ganz einfach, alle Niveaustufen der Schüler unter einen Hut zu bringen. Der jüngere Afghane arbeitet gerade auf seinen Quali hin und knobelt an Rechenaufgaben, die seinem Freund leicht fallen. Der macht bald Mittlere Reife. Manchmal sind auch die Helfer überfragt. Der Sozialarbeiter Moser hilft gerne bei Mathe. Aber als er ein Blatt mit den fünf Säulen der Sozialversicherung vorgelegt bekommt, frage er sich schon, weshalb die Schüler lernen müssen, in welchem Jahr die Pflegeversicherung eingeführt worden sei.

Mittlerweile haben Hunderte Migranten das kostenlose und freiwillige Angebot von Bellevue angenommen. Auch ein junger Mann aus dem Senegal kommt regelmäßig zu den Übungsstunden an die Angertorstraße. An diesem Nachmittag sitzt er konzentriert vor einem Buch und liest, neben ihm liegt ein Vokabelheft. Er lernt still für sich, er genießt die Atmosphäre. Hier lernt im Gespräch jeder von jedem, auch die Helfer von den Gästen. Als der junge Mann schließlich aufsteht und sich per Handschlag verabschiedet, muss er doch noch was loswerden. "Die deutsche Grammatik ist schon sehr schwer", sagt er und lacht.

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Quelle:
SZ vom 23.10.2018
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