Inszenierung:Körper-Bilder

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Der Choreograf Micha Purucker blickt zurück

Von SABINE LEUCHT, München

Bevor Gabriele Graf und Uli Zentner an ihre Lesepulte treten, entfernt Michael Purucker die Kanthölzer von der schmalen Sandspur in der Mitte des Raumes. Sie zeigt auf zwei Versionen von Rembrandts "Die Anatomie des Dr. Tulp", auf denen sich die Körper in unterschiedlichen Stadien der Auflösung befinden. Wenn die Zuschauer eine Stunde später ihre Schlafbrillen wieder abnehmen, ist auch die Spur verwischt, als wäre endlich doch ein realer Körper hindurchgeschlurft, so warm und unperfekt, wie ihn die beiden zuvor verlesenen Monologe auf unterschiedliche Weise zum Verschwinden bringen wollten.

Zwischen dem Lebensabschnittsbericht eines Extrem-Bodybuilders auf der einen und einem eher wissenschaftlich-nüchternen Text, der sich am Phänomen des Hirntodes und der Frage nach dem Sitz der Persönlichkeit abarbeitet, auf der anderen Seite der sandigen Linie, entfaltet sich jener ewige Diskurs um den Körper, von dem sich der Choreograf Michael Purucker nun schon seit 30 Jahren angetrieben fühlt: Einerseits Schlachtfeld ewiger Selbstperfektionierungskämpfe, andererseits der noch immer primitive und endliche Leib, mit dem man stets identisch bleibt. Ein weites Feld - zumal für einen, der im Tänzer den Anwalt der Körperkultur sieht.

Im Schwere Reiter hat nun einer der auch intellektuell aktivsten Choreografen der Stadt über Ostern endlich Zeit gefunden, die Zeugnisse seines eigenen Schaffens zu sortieren. Nun hängen Teile davon an den Wänden. Szenenfotos, Plakate, Skripts, Stadtpläne und andere Zeugen seines sehr räumlichen Denkens, aber auch ein Text von Jakob Johann von Uexküll über die Merk- und Wirkwelt der Zecke. Auf mehreren Screens gibt es abendlich wechselnde Ausschnitte aus Purucker-Performances zu sehen. "Archival Beach", laut Purucker "ein begehbares Diagramm", ist mehr Resonanzraum als Retrospektive. Weil der frühere Kunstgeschichtler nicht an lineare Entwicklung glaubt, gibt es "möglichst viel und nachvollziehbar simultan", also etwa in einer Ecke das, was atmosphärisch überlebt hat, und in der anderen Überbleibsel von Aktionen, die sich gesellschaftlich einmischen wollten. Von links hinten strahlen die Idole oder "icons" Bacon, Burroughs, Pasolini und Maria Lassnig aus, mit deren "Körperbewusstseinsbildern" Puruckers 1999 gestartetes Internetprojekt "body mapping" korrespondiert, in dem befragte Personen bestimmte Gefühle auf einem Körperplan eintrugen. Fortsetzung folgt. Gegenüber etlichen Zeugnissen aus Korea, wo Purucker viel gelebt und gearbeitet hat, hängen Fotos von Interventionen in Kirchen und Flughäfen, lange bevor von Kunst im öffentlichen Raum überhaupt die Rede war.

Nicht alle Korrespondenzen erschließen sich leicht. Darum ist es gut, dass der Choreograf täglich selbst durch sein Archiv führt. Sonst bliebe das Kraftfeld, in dessen Zentrum sich am 17. April zum letzten Mal die Lese-Performance "Organic Display" entfaltet, möglicherweise inaktiv. Denn zwischen all diesen Körper-Bildern entzieht Purucker den Körpern seiner Akteure zunächst die Bewegung und dann auch noch die Sichtbarkeit. Blind gemachte Zuschauer hören Stimmen, die von grotesken Nackenumfängen und Proteinbergen, Gehirngewebetransplantation und Identität sprechen. Das Kopfkino springt an, während man sich seiner Leiblichkeit fast schmerzhaft bewusst wird. Gemein und klug.

Micha Purucker: Archival Beach (2. Block), Donnerstag bis Samstag, 16. bis 18. April, 19 Uhr, Schwere Reiter, Dachauerstraße 114

© SZ vom 13.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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