Nachlässe der Großeltern:Wie Opas Tagebuch Geschichte wird

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Tagebücher, Briefe und Fotoalben bewahrt das Institut unter anderem auf. (Foto: Florian Peljak)

Viele Nachkommen sind unsicher, was mit den Nachlässen der Großeltern geschehen soll. Historiker werben dafür, sie der Wissenschaft zu übergeben. Das sei auch für die Gesellschaft ein großer Gewinn.

Von Theresa Krinninger

Der traurige Moment ist gekommen. Die Großeltern sind tot, die Wohnung wird aufgelöst. Alles muss weg, aber da steht noch die alte Kiste im Speicher mit Großvaters gesammelten Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg. Ist das Geschichte oder kann das weg? Das fragen sich derzeit viele aus der Enkelgeneration, wie Esther-Julia Howell sagt, Archivleiterin am Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ).

Wer sich unsicher ist, kann sich vom IfZ und einer Vielzahl von Archiven beraten lassen. "Unsere Botschaft an die Nachfahren ist immer: Wenn die Familiengeschichte auf dem Dachboden bleibt, wird sie nicht erzählt und auch kein Teil der kollektiven Erinnerung", sagt Howell. "Wir Archivare und Wissenschaftler brauchen diese privaten Quellen, um ein vielfältiges Geschichtsbild zu zeichnen." Ein Geschichtsbild, das andere Facetten zeigt, als die klassischen Täter- und Opferbiografien. Deshalb interessieren die Wissenschaftler besonders Alltagsgeschichten.

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Und hat Opas Album nun historischen Wert? "Das 50. Zigarettenbildalbum haben wir dann abgewiesen", sagt Howell. Da fehle doch der individuelle Wert. Ob ein Nachlass für Archive relevant ist, hänge auch davon ab, wie lebendig die Personen aus den Quellen heraus werden. Je vielfältiger die Dokumente, desto besser. In der Nazi-Zeit wurde beispielsweise sehr oft Tagebuch geschrieben. Eine spannende Quelle, wie Howell sagt: "Weil die Person ihre ungefilterte Wahrnehmung an einem Tag niedergeschrieben hat und nicht rückblickend, als man schon wusste, wie es ausgegangen ist."

Lange Zeit haben sich Historiker auf amtliche Dokumente beschränkt. "In den vergangenen zehn Jahren wird aber immer mehr Familienforschung betrieben", berichtet die IfZ-Historikerin Maren Richter. Bei biografischen Studien gehe es immer wieder um die Frage, wie der Nationalsozialismus die Gesellschaft durchdringen konnte. "Das lässt sich nicht mit amtlichen Dokumenten beantworten, sondern nur mit subjektiven Sichtweisen", sagt Richter. Bislang spielten dabei Zeitzeugen eine wichtige Rolle. "Hier stoßen wir jetzt an Grenzen, weil es fast keine Zeitzeugen mehr gibt." Bald bleiben nur noch persönliche Nachlässe übrig.

Wie der von Rudolf Sunderman, der fast zehn Jahre lang Briefe an seine Tochter aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen-Oranienburg schrieb. Sie waren die einzige Möglichkeit, an ihrem Leben teilzuhaben. "Wenn wir so etwas auswerten, ist das oft sehr ergreifend", sagt Archivleiterin Howell. Umso größer ist die emotionale Betroffenheit der Enkel, wenn sie mit der Geschichte ihrer Vorfahren konfrontiert werden. "Der Wille, nun endlich aufzuklären, ist bei der Generation der Enkel da", sagt Richter. Die Kiste, die die Eltern in der Nachkriegszeit zugeklappt und verschwiegen hätten, machten die Enkel jetzt wieder auf, weil sie mittlerweile die nötige emotionale Distanz gewonnen haben.

"Wir Archivare und Wissenschaftler brauchen diese Quellen, um ein vielfältiges Geschichtsbild zu zeichnen", sagt Esther-Julia Howell über Nachlässe aus privater Hand. (Foto: Florian Peljak)

Trotzdem fällt es vielen schwer, Familienerinnerungen an eine öffentliche Stelle zu geben. "Da kommt sehr viel ans Licht", sagt Howell - Liebesbriefe, Tagebücher oder Schriften, die Familienstreitigkeiten dokumentierten zum Beispiel. Im Archiv kontrolliere keiner mehr, wer die Dokumente mit welcher Fragestellung auswertet. Dabei könne eine Person auch weniger gut wegkommen. Dennoch plädieren die Fachleute dafür, die Informationen zugänglich zu machen. Das sei nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für die Gesellschaft ein großer Gewinn.

Derzeit beleuchtet das größte NS-Forschungsprojekt am IfZ das Privatleben im Nationalsozialismus. Die Historiker fragen sich, inwiefern so etwas in einer totalitären Diktatur überhaupt möglich war. Zu Ende erforscht sei die Zeit des Nationalsozialismus noch lange nicht, sagt Richter. "Wenn man sieht, wie viel noch auf den Dachböden liegt, dann erkennt man das Potenzial, das da noch drin steckt." Seit seinen Anfängen nach dem Krieg hat das IfZ knapp 1000 Nachlässe gesammelt, mehr als die Hälfte davon haben einen Bezug zum Nationalsozialismus. Manche Einzelbestände füllen ganze Regalreihen. Die Nachlassgeber schenken dem Archiv ihre Dokumente per Überlassungsvertrag, haben aber weiterhin Zugang - und mit ihnen jeder Bürger. Interessierte können sie sich direkt im Archiv oder in einer Online-Datenbank anschauen.

© SZ vom 24.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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