Inklusion:Akzeptanz durch Begegnung

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Ary Witte (links) ist Geschäftsführer der Wohn- und Pflegeeinrichtung. Rechts: Gerald Huber, Kulturbeauftragter von Algasing. (Foto: Florian Peljak)

Ary Witte und Gerald Huber sind seit mehr als 30 Jahren beste Freunde. Was sie zusammenschweißte, war die Musik. Nun wollen sie mit einem inklusiven Festival in der Nähe von Dorfen Brücken bauen - zwischen Menschen mit und ohne Behinderung.

Von Clara Löffler, Dorfen

Zwischen Maisfeldern und saftig grünen Wiesen versteckt sich ein kleines Paradies. Apfelbäume, an deren Ästen süße Früchte hängen, schlagen auf dem Gelände Wurzeln. Mittendrin liegt ein Teich, umgeben von Häusern mit Holzfassaden. Drei Fontänen schießen aus ihm empor.

Wer nicht Auto fährt, wird es schwer haben, hierherzufinden, nach Algasing, in das Wohn- und Pflegeheim der Barmherzigen Brüder für Menschen mit Behinderung. 40 Gehminuten entfernt ist die nächste Busstation in Hampersdorf, unweit von Dorfen. Das ist kein Vergleich zu der gesellschaftlichen Entfernung, die die Bewohnerinnen und Bewohner in den vergangenen zwei Pandemiejahren empfunden haben müssen. Als zeitweilig kaum jemand raus- oder reinkam. Brücken, die deshalb abgerissen sind, müssen nun wieder mühsam aufgebaut werden. Ein erster Baustein soll das inklusive Festival am 18. September sein. Organisiert wird es vom Geschäftsführer Ary Witte, 54, und dem Kulturbeauftragen von Algasing, Gerald Huber, 55. Seit über 30 Jahren sind die Zwei beste Freunde. Doch dazu später mehr.

Von der Terrasse der Cafeteria aus beginnen sie ihren Rundgang über das Gelände, vorbei an dem Teich, den Wohnhäusern, dem Bewohnerfriedhof, einen geschwungenen Pfad entlang, hinunter zum frisch gemähten Sportplatz mit den Fußballtoren. Nächsten Sonntag wird hier eine Bühne stehen, ein Zelt, Essensstände. Dabei soll es nicht bleiben. Einmal wöchentlich wollen Witte und Huber zukünftig Konzerte, Kabarett und Theater anbieten. Für Oktober, November und Dezember steht das Programm bereits fest.

"Die Menschen, die hier leben, sind die Gastgeber"

Auf dem Weg zurück in den Konferenzraum beginnen sie von ihrer Vision zu erzählen: Eines Tages soll Algasing ein richtiger Ortsteil sein. Der Empfangstresen am Haupteingang soll verschwinden, zu sehr nach Krankenhaus sehe der aus. Witte zeigt auf die Wohnhäuser. Noch heißen sie Haus 1, Haus 2, Haus 3. Schon bald hoffentlich werden sie richtige Adressen tragen. Algasing 2B zum Beispiel. Vielleicht lassen sich die ehemaligen Gemächer der Mönche, die vor kurzem ausgezogen sind, in eine Herberge für externe Gäste umbauen? Doch eins nach dem anderen.

Vor der Tür trifft Witte einen Bewohner. Er grüßt ihn freundschaftlich, legt ihm die Hand auf die Schulter und fragt: "Hast du schon die Flyer verteilt?" Gemeint sind die Flyer für das Musikfestival. Alle Menschen hier sind dazu eingeladen mitzuhelfen: Als Ordner etwa, beim Dekorieren und Malen von Schildern oder bei der Getränkeausgabe. Gegen eine Spende werden Produkte erhältlich sein, die in den Förderstätten vor Ort entstehen. Kühlschrankmagneten und Ofenanzünder. "Es soll nicht der Eindruck entstehen, ich fahre in die Behinderteneinrichtung, nehme dort an etwas teil und schaue mir an, wie es den Menschen geht. Sondern die Menschen, die hier leben, sind die Gastgeber. Sie haben das auf die Beine gestellt", sagt Witte.

Genauso groß schreiben Witte und Huber Inklusion auf der Bühne. Drei der neun auftretenden Acts haben selbst einen inklusiven Hintergrund. Darunter Laura Glauber, Frontsängerin der Band Lauraine, die sich schon lange für Inklusion stark macht und sich freut, dass das Thema immer mehr Aufwand erfährt. "Je mehr es in der Öffentlichkeit stattfindet, desto mehr Mut finden Betroffene, darüber auch zu sprechen oder über ihren Schatten zu springen und sich etwas zu trauen", sagt sie.

Algasing soll sich vom Image eines Heims lösen

Wittes und Hubers oberstes Ziel ist, Akzeptanz durch Begegnung zu fördern. Kurz: Die Barrieren in den Köpfen abzubauen. Barrieren die in den vergangenen zwei Jahren zum Teil größer geworden sind. "Menschen mit Behinderung sind schon vor der Pandemie nicht wirklich im Fokus der Gesellschaft gewesen, aber während der Pandemie sind sie völlig hinten runtergefallen", sagt Huber.

Schon vor Corona gab es Veranstaltungen, Fußballturniere, Bikertreffen, Weihnachtsmärkte. Algasing war auf dem besten Weg, sich mehr und mehr zu öffnen, sich vom Image eines Heims zu lösen, sichtbar zu werden - ganz im Sinne von Witte, Huber und der UN-Behindertenrechtskonvention. Und dann, mit einem Mal: alles zu. Das Fest ist das erste große Ereignis seit zwei Jahren.

Witte und Huber selbst arbeiten erst seit kurzem für die Behindertenhilfe. Sie sind keineswegs die Art von Menschen, die sich selbst zu Rettern in der Not stilisieren würden. "Wir lernen jeden Tag mehr: Welche Hürden sind zu nehmen? Welche Barrieren haben wir selbst noch im Kopf?", sagt Huber bescheiden. Er ist Musikmanager, seit 25 Jahren Redakteur bei "In München" und kam durch Witte nach Algasing, der hier vor vier Jahren die Geschäftsführung übernahm. Davor hatte er in einer Einrichtung für Suchtkranke gearbeitet.

Witte lebte zwischen zwei Kulturen

Doch eigentlich, sagt Witte, habe ihn das Thema Inklusion, im Sinne der Einbeziehung aller Menschen in die Gesellschaft, bereits ein Leben lang begleitet. Er weiß, was es bedeutet, nicht richtig dazuzugehören. Als Sohn einer Deutschen und eines Iraners wuchs er zwischen zwei Kulturen auf. Als junger Mann war Witte heroinabhängig. Er schaffte den Sprung zurück ins Leben, auch dank der Unterstützung seines Freundes. Als Familie bezeichnet er ihn. "Wir haben sehr viel miteinander erlebt, viele Reisen unternommen, viel gelacht und viel geweint", fügt Huber hinzu.

Auch an diesem Tag wird viel gelacht. Ständig ziehen die Freunde sich auf, reißen kleine Witze. Allgemein ergänzen sie sich gut, der aufgeweckte, wild gestikulierende Witte und der ruhigere, manchmal fast andächtig sprechende Huber. Doch haben sie auch vieles gemein, nicht nur den bayerischen Dialekt und die weißen Turnschuhe, die beide tragen. Vor allem ist es die Musik. 1990 lernten die Zwei sich kennen, viele Jahre tourten sie mit ihrer Indie-Pop-Band "Cat Sun Flower" gemeinsam durch Deutschland, Österreich und die Schweiz, spielten unter anderem als Vorgruppe von Oasis. "Musik ist eine Sprache. Am Schlagzeug konnte ich mich manchmal besser ausdrücken als im Leben", sagt Witte.

Die zwei Freunde wissen um die Macht von Musik als gemeinsamem Nenner, die Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft miteinander verbindet. "Man geht zusammen hin, isst und trinkt miteinander, hört sich gute Musik an, redet darüber und kommt vielleicht noch über ganz andere Dinge ins Gespräch", sagt Witte. Es ist also kein Zufall, dass ausgerechnet ein Festival die Menschen in Algasing zurück in die Gesellschaft holen soll - oder besser: die Gesellschaft zurück nach Algasing.

Gastfreundschaft ist auch ein Zentralwert der Barmherzigen Brüder, die in diesem Jahr ihr 400-jähriges Jubiläum feiern. Obwohl das Wohn- und Pflegeheim dem Orden angehört, haben Witte und Huber selbst mit der Katholischen Kirche als Institution nur wenig am Hut. Witte ist nicht getauft, Huber ausgetreten. Dennoch betonen beide wiederholt: "Wir würden nicht hier sitzen, wenn die Brüder uns das nicht ermöglichen würden." Diesen Dienst tun zu dürfen, ehre sie.

"Endlich ist mal wieder was los bei uns."

Besonders mit dem Wirken von Ordensgründer Johannes von Gott, der sich für die Kranken und Ärmsten einsetzte, können sie sich identifizieren. "In der Freundschaft miteinander etwas zu verändern auf dieser Welt, war immer unser Bestreben. Etwas Gutes zu tun für die Menschen, hat uns immer verbunden", sagt Witte. Das schweißt sie nicht nur als Freunde zusammen. Sie teilen diesen Gedanken auch mit den anderen Mitarbeitenden. "Mir war es immer wichtig, dass die Bewohner ihr Leben so gestalten können, wie sie möchten. Nicht dass wir ihr Leben gestalten, sondern dass wir ihnen das ermöglichen", sagt Gerhard Blenninger, Leiter der Förderstätten und seit 35 Jahren in Algasing tätig.

Später sitzt er gemeinsam mit seiner Kollegin Sabine Wegmann, Leiterin vom Wohnen, an einem der Edelstahltische auf der Terrasse der Cafeteria bei einer Tasse Kaffee. Es ist kurz nach zwölf Uhr, Mittagspause. Immer wieder treten Bewohner für einen kurzen Plausch an den Tisch heran. "Freust du dich schon auf das Festival?", fragt Blenninger sie dann. "Natürlich, frag doch nicht so doof", antwortet einer von ihnen und lacht verschmitzt. "Endlich ist mal wieder etwas los bei uns."

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