Das Lama natürlich, was sonst? Kein anderes Bildmotiv der Fotografin Inge Morath ist so berühmt wie das des Lamas, das im New York der 1950er Jahre in einem Auto über den Time Square chauffiert wird und seinen Kopf aus dem Fenster streckt. Linda - so der Name dieses tierischen It-Girls - war eine waschechte New Yorkerin und lebte in Manhattan. Ihre Besitzer waren Tiertrainer, die das Lama und andere Vierbeiner für TV-Shows, Werbespots und an den Broadway verliehen.
Auch an dem Tag, als Inge Morath die Aufnahme machte, die zu einer der Ikonen ihres künstlerischen Schaffens werden sollte, war Linda auf dem Heimweg von einem Fernsehjob bei den New Yorker A.B.C.-Studios. Für sie wie die gesamte Nachbarschaft war es ganz natürlich, dass sie in einem Auto fuhr. Hätte sie den ganzen Weg durch die damals schon vielbefahrene Stadt etwa auf vier Beinen zurücklegen sollen?

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Dass man so viel weiß über Linda ist der Tatsache zu verdanken, dass Morath die damals entstandene Fotoserie mit ausführlichen Bildunterschriften versehen hatte, und die Geschichte am 2. Dezember 1957 im Life Magazin veröffentlicht worden war. Heute macht das Motiv von Linda, dem Lama, großformatig aufgezogen den Auftakt in der Ausstellung zu Ehren von Inge Morath im Kunstfoyer München.
Sie kam "aus einer grauenvollen, mythischen Vergangenheit"
Dass Morath mit so einem heiteren Motiv so bekannt wurde, war gar nicht so selbstverständlich. Denn die gebürtige Österreicherin - Inge Morath kam 1923 in Graz zur Welt - war, wie ihre Tochter Rebecca im Katalog schreibt, "eine Frau, die aus einer grauenvollen, mythischen Vergangenheit kam". Und weiter schreibt sie über ihre Mutter: "Sie war in einem Kessel des abgrundtief Bösen geschmiedet worden, hatte im heißesten Teil der Hölle - Nazi-Deutschland - gelebt und trug lebenslange, innere Narben davon, in den Bauch des Ungeheuers geblickt zu haben."
Mögen die Worte der Tochter über-dramatisch klingen, klar ist: Inge Morath hatte zwar vielleicht eine schöne Kindheit, aber keine ganz leichte Jugend. Sie wuchs in Darmstadt und Berlin auf, weil ihre Eltern - beide Naturwissenschaftler - oft an verschiedenen Laboren und Universitäten tätig waren. Das Gesamtkunstwerk der Mathildenhöhe bei Darmstadt beeindruckte sie sehr.

Durch die Ausstellung "Entartete Kunst" erwachte 1937 ihre Liebe zur modernen Malerei, über die sie ihr künstlerisches Sehen schulte. Doch dann kam die Abiturientin zum Arbeitsdienst nach Masuren - mit Lagerleben, täglichen Kontrollen, Bespitzelungen und Latrinendienst zur Bestrafung sowie nationalsozialistischer Schulung.
Zurück in Berlin begann sie ein Studium. Der Krieg tobte, sie verlor drei Cousins, musste zum nächsten Arbeitsdienst in eine Schraubenfabrik. Als die Eltern im letzten Kriegsjahr von Berlin nach Salzburg zurückgingen, blieb die 22-jährige Inge allein in Berlin, um ihr Studium zu beenden. Dann standen die Russen vor den Toren Berlins, sie ging los, um sich nach Salzburg zu den Eltern durchzuschlagen.
Im Chaos des Krieges verlor sie allen Mut, wollte sich in einem Fluss ertränken, doch ein Kriegsheimkehrer hielt sie davon ab. - So in etwa beschrieb Inge Morath später die schrecklichen Erfahrungen ihrer Jugendjahre. Die Erinnerungen daran müssen sie ein Leben lang begleitet haben. Deshalb habe sie auch nie Kriege fotografiert, wie sie später schrieb.
Nach 1945 arbeitete Inge Morath als Übersetzerin und Journalistin. 1949 wurde sie von Robert Capa eingeladen, für die neu gegründete Fotoagentur Magnum zu arbeiten. Sie sortierte, lektorierte und schrieb Begleittexte zu den Fotos von Cartier-Bresson und den anderen Gründungsmitgliedern. Dabei lernte sie viel und entschloss sich 1951, von nun an selbst als Fotografin tätig zu sein.
Vier Jahre später wurde sie als erste Frau in den bis dahin ausschließlich männlichen Kreis der Magnum-Fotografen aufgenommen. Für verschiedene Magazine reiste sie in den folgenden Jahren durch Europa, den Nahen Osten, Afrika, die USA und Südamerika, veröffentlichte Fotobücher - unter anderem über Iran - und arbeitete als Fotografin an zahlreichen Filmsets weltweit.
Am Set von "The Misfits", wo intensive Aufnahmen von einer wie verloren scheinenden Marilyn Monroe entstanden, lernte sie Arthur Miller kennen. Nach Millers Scheidung von Monroe heirateten die beiden im Februar 1962. Im September desselben Jahres wurde Tochter Rebecca geboren - die zur international renommierten Regisseurin, Schauspielerin und Künstlerin wurde. 2002 starb Inge Morath im Alter von 78 Jahren an Krebs.
Doch nicht der 20. Todestag, sondern der 100. Geburtstag am 27. Mai 2023 war für Isabel Siben vom Kunstfoyer und Anna-Patricia Kahn von der Fotogalerie Clair Anlass, die umfassende Ausstellung mit 170 Arbeiten zu konzipieren, zu der im Schirmer/Mosel Verlag ein noch umfangreicherer Katalog erschienen ist. Etwa 80 Vintage- und Lifetime-Abzüge konnten die beiden vom Inge-Morath-Estate bekommen, obwohl der aus konservatorischen Gründen extrem zurückhaltend mit dem Originalmaterial umgeht.
Die anderen gezeigten Aufnahmen sind spätere, aber autorisierte Prints. Darunter auch einige wenige Farbaufnahmen. Einige der Motive wurden riesenhaft vergrößert, so dass Details sichtbar werden, die vielleicht nicht einmal Inge Morath auf den damals gängigen Kontaktbögen erkennen konnte.
Gezeigt werden in der Ausstellung nicht nur Ikonen wie Linda, das Lama auf den Straßen New Yorks, oder die mit Pelz behängte Mrs. Eveleigh Nash, eine Dame der Londoner Gesellschaft. Auch zahlreiche Porträts von Schriftstellern, Malern, Bildhauer, Musikern, Modeschöpfern und Schauspielern - geradezu ein Who is Who der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts - sind zu sehen.
Dazu Porträts und Selbstporträts von Inge Morath, viele Aufnahmen, die an Filmsets entstanden sind, außerdem Straßenszenen aus New York, London, Madrid, Pamplona, Moskau und Leningrad, die Inge Moraths Gespür für Street-Photography dokumentieren, Landschafts- und Industriefotografie aus Iran sowie Aufnahmen, die während einer Theaterreise mit ihrem Mann Arthur Miller 1983 und einer früheren Reise durch China 1978 entstanden sind.
Es ist ein geradezu erzählerisches Schwarz-Weiß, in das Inge Morath ihre Aufnahmen setzt. Keine dramatisch harten Kontraste kennzeichnen ihre Arbeiten. Die Bildkompositionen sind geprägt vom Goldenen Schnitt der Malerei, die sie in ihren Jugendjahren kennenlernte und bewunderte, von Vorder- und Hintergründen, selbst wenn sie bei den Porträtaufnahmen die Porträtierten zentralperspektivisch setzt, was selten genug geschieht.
In einem Film, der eine vor ihr 1994 in Berlin gehaltene Lesung dokumentiert, kann man in der Ausstellung zudem Inge Moraths autobiografischer Erzählung folgen - in einem herrlich österreichischen Tonfall, den die Weitgereiste ihr Leben lang nicht verlor.
Inge Morath - Hommage, bis 1 Mai 2023, Kunstfoyer, Maximilianstr. 53 . Das Buch zur Ausstellung, herausgegeben von Isabel Siben und Anna-Patricia Kahn, erscheint in zweisprachiger, englisch/deutscher Ausgabe im Schirmer/Mosel Verlag: 58 Euro. Die Museumsausgabe im Kunstfoyer kostet 50 Euro.