Süddeutsche Zeitung

In St. Pölten:Aussage gegen Aussage

Wolfgang Rothe wirft seinem Bischof einen sexuellen Übergriff vor, doch die Kirche glaubt ihm nicht.

Von Bernd Kastner

Am 14. September 2020 veröffentlicht die Diözese St. Pölten in Österreich eine kurze Pressemitteilung: Der Priester Wolfgang Rothe habe Altbischof Klaus Küng einen sexuellen Übergriff vorgeworfen. Der Vatikan stufe dies als "haltlos" ein und habe das Verfahren abgeschlossen. "Für Bischof Küng, der die Vorwürfe immer auf das Schärfste zurückgewiesen hatte, ist der Fall mit der Entscheidung Roms erledigt." Was war passiert?

2004 wühlt der "Sex-Skandal" im Priesterseminar von St. Pölten die Kirche in Österreich auf. Als Vize-Chef ist Rothe mitverantwortlich und tritt als Subregens zurück. Am 6. Dezember 2004 wird er ins Bischofshaus einbestellt, Küng enthebt ihn seiner verbliebenen Ämter und schickt ihn in eine Auszeit. Der Priester ist erschüttert und fürchtet um seine Reputation; er erleidet einen Schwächeanfall. Der Bischof, ein studierter Mediziner, gibt ihm eine Beruhigungstablette. Später am Abend, zurück in seiner Wohnung, trinkt Rothe Wein. Dann geht er auf seinen Balkon im ersten Stock und stürzt hinunter. Er hat Glück und bricht sich nur die Hand. Bis hierhin ist das Geschehen weitgehend unstrittig.

Es dauert 15 Jahre, ehe Rothe ein weiteres Kapitel hinzufügt. Anfang 2019 sieht er ein außergewöhnliches Gespräch im Bayerischen Fernsehen. Der Wiener Kardinal Christoph Schönborn und Doris Reisinger reden über Missbrauch in der Kirche. Die ehemalige Ordensfrau berichtet, dass sie als erwachsene Frau von einem Mitbruder vergewaltigt und im Orden seelisch und spirituell missbraucht worden sei. Juristische Beweise hat Reisinger nicht, und doch: Der Kardinal sagt, er glaube ihr.

Wenn der Kardinal ihr glaubt, vielleicht glaubt er dann auch mir: Das habe er sich damals gedacht, berichtet Rothe heute, und dann aufgeschrieben, was er lange zu verdrängen versucht habe. Er schickt einen zehnseitigen Brief an Schönborn und schildert minutiös, wie er jenen Abend im Dezember 2004 erlebt habe. Dass der Bischof nach dem Schwächeanfall übergriffig geworden sei. Auf einem Sofa sitzend habe Küng ihn, Rothe, gestreichelt; nicht an den Genitalien, aber doch an Stellen, wo man einen anderen nicht ungewollt berühren darf. Er selbst, Rothe, sei wie erstarrt gewesen, habe sich dann aber dem Bischof entziehen können. Er habe sich geschämt und geschwiegen.

Keine der kirchlichen Institutionen habe ihn befragt, sagt der Münchner Geistliche

Kardinal Schönborn leitet Rothes Brief Monate später nach Rom weiter. Die Polizei reagiert schneller. Im April 2019 wird Rothe zunächst von der Münchner Kripo befragt, später auch von der österreichischen. Strafrechtlich wird der Vorwurf gegen den Bischof nicht geklärt, die Staatsanwaltschaft St. Pölten stellt im Mai 2019 das Verfahren ein, wegen Verjährung. Journalisten erfahren von der Geschichte, im Januar 2020 berichten diverse österreichische Medien. Rothe sagt, er habe die Presse nicht informiert, und öffentlich geäußert habe er sich erst, nachdem Küng dies getan hatte. Der emeritierte Bischof bestreitet via Bistumspressestelle jeden Übergriff. Es steht Aussage gegen Aussage. Welcher Außenstehende könnte mit Gewissheit sagen, was im Bischofshaus passiert ist?

Die Kirche. Sie ist sich sicher, die Wahrheit zu kennen. Für sie ist die Causa Rothe/Küng besonders heikel. Anders als in den meisten Missbrauchsfällen geht es nicht um verstorbene Täter, nun beschuldigt ein im Amt befindlicher Priester einen lebenden Bischof. Doch obwohl die Kirche aufgrund der Missbrauchsdebatte weltweit enorm an Glaubwürdigkeit verloren hat, gibt es in Sachen Rothe/Küng keine transparente kirchliche Ermittlung. Auf Fragen der SZ dazu reagiert die Vatikan-Pressestelle nicht.

Im April 2020 erhält Rothe einen knappen Brief vom aktuellen St. Pöltener Bischof Alois Schwarz. Die Bischofskongregation in Rom sei "nach eingehendem Studium zu der Überzeugung gelangt", dass die Vorwürfe gegen Küng "haltlos sind und darum zu den Akten gelegt werden" könnten. Der Bischof spricht eine kirchenrechtliche Verwarnung gegen Rothe aus, das sei vergleichbar mit einer Abmahnung und Grundlage möglicher weiterer Sanktionen, sagt Kirchenrechtler Rothe. Obwohl er schon lange in München arbeitet, ist er noch immer dem Bischof von St. Pölten unterstellt. Zugleich ermahnt der Bischof den Priester, seine Vorwürfe "ab sofort nicht weiterhin in der Öffentlichkeit aufrecht zu erhalten oder zu verbreiten". Auf Fragen der SZ zu dieser Causa schweigt das Bistum: "Bischof Klaus Küng hat sich in der Sache umfassend geäußert und wird sich zu diesen Vorwürfen nicht weiter äußern."

Der ehemaligen Ordensfrau Reisinger wird geglaubt, nicht aber dem Priester Rothe. "Niemand von den kirchenrechtlich zuständigen Institutionen in Österreich und Rom hat es für nötig befunden, mich zu befragen. Man will mir nicht zuhören", sagt Rothe. Die Kirche wirft ihm de facto Rufmord an einem Bischof vor, strengt aber kein formales Verfahren gegen ihn an. Warum nicht, fragt Rothe?

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SZ vom 02.01.2021
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