In Rollen reindenken:Köpfen mit Köpfchen

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Thomas Darchinger ist einer der Lieblingsbösewichte im deutschen Film - jetzt spielt er den Schichtl

Von Thomas Becker, München

Noch geht's nicht auf beim Schichtl. Bevor in der Schaustellerstraße 54 bald wieder die Köpfe rollen, haben auf der Theresienwiese noch die Bauarbeiter das Sagen und nicht der wortgewaltige Schichtl alias Manfred Schauer. Und der, der nun den Leonhard Schichtl auf die Volkstheaterbühne bringt, sitzt tiefenentspannt ein paar Meter weiter bei einem kühlen Augustiner und erzählt von seiner ersten prägenden Bühnenerfahrung - im Schultheater. In "Polly oder Die Bataille am Bluewater Creek", einer Persiflage auf die "Dreigroschenoper", spielte Thomas Darchinger einen Piraten, der am Schluss geköpft und dessen Kopf über die Bühne getragen wird. Wenn er am Mittwoch im Theater Gut Nederling am Westfriedhof Premiere mit dem Stück "Auf geht's beim Schichtl" feiert, schließt sich da sozusagen der Kreis der verlorenen Köpfe.

Darchinger, Jahrgang 1963, geboren in Neuburg an der Donau, aufgewachsen in Herrsching, hat in Film und Fernsehen schon so oft den Mörder gegeben, dass man ihn als den Lieblingsbösewicht des deutschen Films bezeichnen könnte. "Ich bin wahrscheinlich im Leben zu nett - und deswegen der ideale Bösewicht, weil man mir den bad guy nicht gleich ansieht", mutmaßt er mit verschmitztem Lächeln über dem grau melierten Zwölf-Tage-Bart. Aber im Ernst: Wie kommt es, dass er meist als finsterer Geselle besetzt wird? Nun wird dieser so fröhlich wirkende Mensch wirklich ernst: "Mir sind gewisse Abgründe durchaus vertraut. Das hat mit meiner Kindheit zu tun. Die war schon eher düster. Ich kann in die Tiefen der Seelen hineinschauen und mir solche Bedürfnisse, die nicht für jeden verständlich sind, zugänglich machen." Zwei Therapien hat er gemacht, um damit umgehen zu können, was in der Kindheit passiert ist, mehr sagt er nicht dazu. Nur noch so viel: "Raus aus der Leidenspassivität, rein in den aktiven Umgang damit - auch ein guter Schritt, um ein noch besserer Schauspieler zu werden." Dabei ist er schon ein guter.

In mehr als 130 Filmen hat Darchinger in den vergangenen 25 Jahren gespielt, internationale Produktionen an der Seite von Jean Reno, Melanie Laurent und Tom Schilling, aber auch "Tatort", "Polizeiruf 110", "Rosenheim Cops" und "München 7", dazu zig Synchronsprecher-Jobs. 1992 gab es gleich mal den Grimme-Preis, mit den Kollegen von der "Löwengrube", wo er den Maxi Grandauer spielte. Regisseur Rainer Wolffhardt hatte ihn beim Pathos Transport Theater entdeckt, wo Darchinger sechs Jahre lang spielte, mit "d-formation" eine eigene Gruppe gründete und selbst Stücke schrieb. "Da habe ich viel von meinen dunklen Seiten kreativ umgesetzt, zum Beispiel in ,Amokläufe', ein regelrechtes Weltuntergangs-Stück."

Nach dem Abi jobbte er vier Monate als Schlafwagenschaffner, um Geld für einen Amerika-Trip zu sparen. Er wusste, dass er keinen ordentlichen Beruf ergreifen und auf keine Schule mehr gehen würde - sehr zur Freude seiner Mutter: "Sie hat es gehasst, dass ich Schauspieler werden wollte und gesagt: ,Auf dich werden's gewartet haben' - ein Satz, der mich lange verfolgt hat." Er sah sich als Außenseiter, hat Jahre gebraucht, bis er sich in der Branche dazugehörig fühlte. "Ich dachte immer: ,Die brauchen mich eh nicht'. Die Mitgliedschaft in der Deutschen Filmakademie hat mich da stark verändert. Ich wusste gar nicht, dass ich so geschätzt bin." Regisseur Edward Berger ("Mutter muss weg", "Jack") sagt über ihn: "Ein gewissenhafter Arbeiter. Einer, der macht und tut, um eine Wahrheit hinter der Rolle herauszufinden. Er könnte nicht vor die Kamera treten, ohne zu wissen, was er da tut." Und Kollege Anno Saul ("Kebab Connection", "Wo ist Fred?") sagt: "Ich arbeite mit ihm seit 2001, und er ist jedes Mal extrem gut vorbereitet, wahnsinnig freundlich am Set, sehr konzentriert und vor allem uneitel. Der geht in die Tiefe, hört zu - eine coole Sau. Einer von den Schauspielern, die man unbedingt braucht, damit man die anderen ertragen kann."

Ein entscheidender Mann bei Darchingers Karrierestart war Reinhard Hauff. Er besetzte den vom Theater gekommenen Eleven in einer Romanverfilmung von Sigi Sommer: "Mit den Clowns kamen die Tränen". Darchinger spielte einen als Clown verkleideten Terroristen, der mit dem Maschinengewehr in eine Zirkusvorstellung marschiert, Leute entführt und erschießt - kein Wunder, dass niemand in ihm den jugendlichen Liebhaber sah. 2010 spielte er Heinrich Himmler in "Die Kinder von Paris", arbeitete sich monatelang in die Rolle ein - und hatte danach ein Problem: "Nach dem letzten Drehtag hatte ich eine Woche lang Alpträume. Weil alles, was mit Himmler zusammenhängt, das pure Grauen ist. Nach der Arbeit brach alles aus."

Typisch Darchinger: voll im Tunnel, alles tun für die Rolle. Aber gejammert wird nicht: "Diese internationalen Produktionen sind ein Geschenk. 36 Millionen Euro Etat, 76 Drehtage - dagegen wirken deutsche Teams wie Making-of-Teams", sagt er und erzählt vom "funktionalen Druck" bei solchen Produktionen: Dreh in Ungarn, in der Steppe, im Februar, kurze Tage. Darchinger hat nur fünf Sätze, doch hinter ihm zieht ein Flüchtlingstreck mit 600 Komparsen und einem darüber fliegenden Flugzeug durchs Bild: "Das dauerte eineinhalb Stunden, bis die wieder auf Position waren. Da werden so ein paar Sätze ganz schön schwierig . . ." Für solche Situationen hat er sich innere Gelassenheit antrainiert und gelernt, sich auf seine Instinkte zu verlassen: "Mittlerweile weiß ich, dass in mir drin alles steckt. Dass ich darauf vertrauen kann, dass es dann schon kommt, wenn es gefragt wird. Das bringt auch das Älterwerden mit sich: dass man lernt, sich mehr zu vertrauen. Ein Beckenbauer hatte das wahrscheinlich schon immer. Ich war geprägt von Angst, musste die immer überwinden oder zumindest etwas mit ihr anstellen." Darchinger, der Zweifler.

Seine Wunschrolle? George Clooneys Film "The Descendants" fällt ihm ein. "Der Protagonist muss mit den Dingen zurechtkommen, kann sie nicht hinbiegen. So was interessiert mich: dieser Schwebezustand, die Suche nach dem Glück in der eigentlichen Unmöglichkeit."

Jetzt also der Schichtl. Wie passt der da rein? Als Regisseur Winfried Frey anfragt, muss er den Protagonisten nicht lange zum Bühnen-Comeback nach mehr als zwölf Jahren überreden: "Das ist keine schlichte Umpfta-umpfta-Tür-auf-Tür-zu-Komödie, sondern ein modernes Volkstheaterstück", sagt Darchinger. Er gibt den "scharfen Leo", den Messerwerfer und Schausteller-Chef Leonhard Schichtl, der einen Konkurrenzkampf mit der Schaustellerin Balbina Freudhäuser, der Teufelin, ausfechten muss. Rollen Köpfe? Wird nicht verraten. Manfred Schauer, der aktuelle Schichtl-Chef, wird sicher vorbeischauen und erwartet einen Gegenbesuch, sagt Darchinger: "Er hat gesagt, ich soll auf der Wiesn mal vorbeikommen - er will mich unbedingt köpfen."

© SZ vom 09.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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