Handwerk und Tradition:"Die Flamme spricht zu mir"

Handwerk und Tradition: Franz Fürst an seinem Tunkkarussell, in dem die Kerzenrohlinge noch einmal mit einer äußeren Wachsschicht überzogen werden.

Franz Fürst an seinem Tunkkarussell, in dem die Kerzenrohlinge noch einmal mit einer äußeren Wachsschicht überzogen werden.

(Foto: Robert Haas)

Franz Fürst zieht Kerzen - etwa 15 Tonnen pro Jahr in seiner kleinen Werkstatt in Sendling. Woran man gute Qualität erkennt und warum der Docht krumm sein muss? Antworten gibt's vom letzten Wachsziehermeister der Stadt.

Von Philipp Crone

Entscheidend ist die Luft. Nicht nur die um eine Kerze herum, sondern auch die in einer Kerze.

Franz Fürst, 56, letzter verbliebener Wachsziehermeister Münchens, steht in Sendling im Keller seiner Werkstatt und deutet auf eine Art steinerne Badewanne. Mit der Wanne geht es bei jedem Turnus los, acht Stunden später sind dann einen Stock höher die gezogenen Kerzen fertig gestapelt und geschnitten, in diesem Fall aus einem Kerzenschlauch, 220 Meter lang, mit einem Durchmesser von drei Zentimetern. Um zu verstehen, was eine perfekte Kerze ausmacht, muss man deren Herstellung kennen, sagt Fürst, ein kräftiger Mann mit grauem Haar, das wallend um seinen Kopf liegt wie bei einer Lego-Figur.

Die Erklärung, wie eine Kerze entsteht, wird in kürzester Zeit zu einem Vortrag über den richtigen Dochtwinkel oder warum man Kerzen möglichst ziehen, zur Not auch gießen, aber niemals pressen soll. Es wird eine Abrechnung mit den Chinesen, die gepresstes Klump produzieren, dazu eine Tipp-Serie, woran man etwa Qualität erkennt oder wie man einen Docht richtig löscht. Fürst beschreibt Kerzen wie Lebewesen, mehr wie eine Zimmerpflanze, die man pflegen muss, als ein Gegenstand, der abbrennt. Fürst sagt, bevor er sich eine Zigarette anzündet und zum Geheimnis der eingeschlossenen Luft kommt: "Die Flamme spricht zu mir."

Ein Geheimnis beim Wachsziehen ist die richtige Mischung, in dem Fall: Was kommt in die Steinwanne? "Bei den Wachsziehern ist es wie bei den Bäckern, alle haben ein eigenes Rezept." Fürst mischt Paraffin, Stearin, Hartwachs und Bienenwachs in einem Verhältnis von etwa 60, 20, 10 und 10 Prozent. "Das Rezept meines Großvaters." Die Mischung ist für das Ziehen so entscheidend wie die richtige Temperatur und die richtige Geschwindigkeit. Wenn das Wachs aus der Wanne, in der es auf 60 Grad erhitzt wird, in die Ziehmaschine gepumpt wird, schwimmt es dort in einem flachen Becken und wird auf 75 Grad erhitzt.

Die Maschine ähnelt einer Art Wäscheständer, in dem die Leinen ein einziger zusammenhängender und beweglicher Faden sind und über zwei Trommeln, groß wie Wagenräder, immer weitergezogen werden. An einer Stelle läuft der Faden dann durch das Becken mit dem erhitzten Wachs, der Docht nimmt Wachs auf, wird weiter- und wieder rausgezogen, das Wachs kühlt an der Luft ab und trocknet, ehe beim nächsten Umlauf der Docht wieder durch das Becken taucht. So entstehen um den Faden herum einzelne Wachsschichten, "wie Jahresringe bei Bäumen", sagt Fürst. Und dazwischen bleiben winzige Lufteinschlüsse, die eben so wichtig sein sollen. Warum? "Gleich", sagt Fürst.

Handwerk und Tradition: Die Kerzen werden zum Teil aufwendig verziert.

Die Kerzen werden zum Teil aufwendig verziert.

(Foto: Robert Haas)

Der Raum hat 25 bis 30 Grad, wenn eine Kerzenproduktion läuft; über dem Gerät hängen Lüftungen, die Kellerfenster sind offen. "Im Hochsommer kann es passieren, dass wir nicht ziehen können, wenn es zu warm ist." Denn der Vorgang ist anfällig. Es reicht, wenn Fürst mal zu lange mit einem Kunden telefoniert und kurz hochgeht in seine Werkstatt, dass unten die ganze Ladung leidet. "Ist es zu warm, kleben die Fäden aneinander oder der Docht ist nicht mehr in der Mitte, der Strang wird oval." Wenn der Faden wiederum zu kalt wird, bricht das Wachs. In beiden Fällen muss alles wieder eingeschmolzen und der Faden entsorgt werden.

Der große Wäscheständer läuft und läuft, pro Tauchgang kommt ein halber Millimeter Wachs dazu. Fürst schwitzt, nach acht Stunden sind um den Fadenstrang drei Zentimeter Wachs im Durchmesser aufgetragen. "Das Ganze hat dann etwa die Konsistenz wie ein warmer Gartenschlauch." Der Strang wird durch ein Loch in der Kellerdecke hochtransportiert und aufgerollt. Hier wartet die Guillotine.

Treppe hoch, Kälte, noch eine Zigarette, Fürst schnauft kurz durch. Es ist gerade eine schwierige Zeit für ihn. Vor einem Jahr kam sein Bruder, ebenfalls Wachsziehermeister und Werkstattleiter, bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Franz Fürst kümmerte sich bis dahin vor allem um das Geschäft am Dom. Und nun starb vor fünf Wochen auch noch seine Frau. Im Familienbetrieb halfen schon immer alle mit, die Meister zogen, die anderen packten mit an, packten ein, schnitten ab mit der Guillotine.

Ein "Dagatum" kracht durch den Raum, wenn ein Stück warmer Gartenschlauch abgetrennt wird. Im Sekundentakt hallt die Werkstatt, dass die Bayern-1-Hits aus dem Radio kaum mehr zu hören sind. Die Songs ändern sich mit den Jahrzehnten in Sendling, die Fertigung bleibt gleich.

Handwerk und Tradition: Anlässlich des 150-Jahre-Jubiläums der Firma gab es besonders verzierte Kerzen.

Anlässlich des 150-Jahre-Jubiläums der Firma gab es besonders verzierte Kerzen.

(Foto: Robert Haas)

Abgetrennte Rohlinge werden auf einer Marmorplatte zu mehreren nebeneinander gelegt und mit den Händen gerollt, bis sie gerade sind. Kerzengerade. Über Nacht kühlen sie aus, sind aber noch nicht fertig. "Wichtig ist auch, dass man oben und unten nicht verwechselt", sagt Fürst. Warum? Weil der Docht nicht einfach nur ein Faden ist, sondern selbst eine Ausrichtung hat. Ein "Dreimal-Zehner" besteht aus dreimal zehn Fäden. Und dazu ein sogenannter Spannfaden. "Der sorgt dafür, dass sich beim Abbrennen der Docht zur Seite biegt." Aber nur, wenn er von der richtigen Seite abgebrannt wird. Warum muss der Docht krumm sein? "Am Rand der Flamme ist die Temperatur am höchsten, und wenn dort das Docht-Ende hinzeigt, wird dieses Ende bei maximaler Temperatur verbrannt." Das bedeutet: rückstandsfrei. Entscheidend für das gute Brennen einer Kerze ist - neben den Lufteinschlüssen - die Reinheit. Ist das Wachs rein, funktioniert der Ablauf aus Erhitzen, Verflüssigen und Verbrennen. Solche Exemplare bekommen keine Kerzen-Krankheiten wie Rußen, Verstopfen, Tropfen.

Kerzen-Sprechstunde für Notfälle

Verstopfungen entstehen, wenn Ruß vom Docht oder Staub in die Brennschale gelangen, wie die Aushöhlung mit dem flüssigen Wachs genannt wird. "Passiert oft bei Tauf- oder Hochzeitskerzen", sagt Fürst. Oder wenn der Docht gerade steht und deshalb nicht sauber am Ende verbrannt wird, sodass Ruß und Rückstände in der Brennschale landen. Die werden in den Docht gesaugt, der verstopft und wird kürzer, weil er nicht genug Wachs bekommt; er rußt weiter, flackert, bis die Kerze zu Fürst spricht: Hilfe!

Handwerk und Tradition: Die Guillotine macht aus einem Kerzenschlauch einzelne Kerzen.

Die Guillotine macht aus einem Kerzenschlauch einzelne Kerzen.

(Foto: Robert Haas)

In Fürsts Laden am Dom gibt es eine Art Kerzen-Sprechstunde. Kunden bringen ihre Kerzen zu ihm und er berät sie, was zu tun ist. "Manchmal reicht es schon, sie zehn Zentimeter weiter nach links und aus dem Zug zu stellen."

Die vom Kerzen-Guru sind meistens gesund, was auch seinen Preis hat. Eine Altarkerze, 30 Zentimeter lang, drei Zentimeter dick, kostet drei Euro. Sie ist aber eben auch handgezogen und mit einer Schmelzschutzschicht umgeben, die am zweiten Tag dazukommt.

Fürst stellt sich dafür an das sogenannte Tunkkarussel in der Werkstatt, an dem Kränze mit je zwölf an den Dochten aufgehängte Kerzen hängen. So werden sie in Kessel mit flüssigem Wachs getaucht. Hier kommen die Farben an die Kerze, wenn sie farbig werden soll. Vor allem wird für das Karussell mehr Hartwachs verwendet, das einen höheren Schmelzpunkt hat. "So entsteht eine zwei Millimeter dicke Außenschicht, die das Tropfen verhindert, weil sie länger fest bleibt, sodass sich die Brennschale eher nach unten vergrößert", sagt Fürst. Den gleichen Effekt haben auch die Lufteinschlüsse.

Zahlen und Tipps

790 000 Tonnen Kerzen wurden laut Bayerischer Kerzeninnung im Jahr 2018 europaweit verkauft. "Das entspricht statistisch gesehen 1,55 Kilogramm Kerzen pro EU-Bürger, vom Säugling bis zum Greis", sagt der Innungsvorsitzende Wolfgang Reich. Deutschlandweit gibt es derzeit noch 45 Mitglieder der Innung. Einer von ihnen ist Franz Fürst, der vorletzte Wachsziehermeister Münchens war sein Bruder Bernhard, der vor einem Jahr gestorben ist. Seit 1862 besteht die Wachszieherei, mit Franz Fürst arbeitet die fünfte Generation in diesem Beruf und verkauft am Dom. Dessen Urgroßvater Franz Xaver Sagmüller war Geselle bei Joseph Luckner, der 1862 die Zieherei gründete. Die Tipps und Tricks sind über die vielen Jahre gleich geblieben. Der Docht einer normalen Tischkerze sollte demnach nicht länger als ein bis eineinhalb Zentimeter sein und an einem Platz ohne Zugluft stehen. Zugluft stört die vollständige Verbrennung, die Kerze rußt und tropft. Wenn die Flamme einzugehen droht, ist der Docht zu kurz. Dann sollte man die Kerze löschen und etwas Wachs abgießen. Bleibt ein zu hoher Rand einer Kerze stehen, sollte man ihn nach dem Löschen der Kerze ein wenig abschneiden. SZ

Tropfen entstehen, wenn zu viel Wachs durch die Flamme flüssig wird. "Da Luft isolierend wirkt, haben die kleinen Lufteinschlüsse zwischen den Wachsschichten den Effekt, dass die Temperatur nach außen hin in der Kerze schnell abnimmt." Der Rand bleibt fest, die Kerze tropft nicht. "Außerdem leuchtet eine Kerze mit Lufteinschlüssen stärker, weil Licht durch Luft besser durchstrahlt als durch Wachs."

Die Kerzen werden zum Schluss noch einmal gerollt, dann liegen sie bereit, Elfenbeinfarben, zu Dutzenden gestapelt, für lange Abende oder hohe Kirchenschiffe.

Wachszieherei Fürst in München, 2017

Auf dieser Maschine entstehen die gezogenen Kerzen. Ein 220 Meter langer Faden läuft über die beiden Trommeln und wird immer wieder in der Mitte in das Becken mit der heißen Wachsmischung eingetaucht, sodass den Faden nach einem Tauchgang ein halber Millimeter Wachs mehr umgibt.

(Foto: Robert Haas)

Kirchen sind Großkunden bei Fürst. Generell sind derzeit vor allem dicke kleine Kerzen gefragt, sagt Wolfgang Reich von der Bayerischen Wachszieher-Innung. "2018 waren das durchgefärbte Stumpenkerzen mit rustikaler Oberfläche." Reich sieht die Entwicklung der Branche mittlerweile gelassen. Zwar seien die Importe der Billigkonkurrenz aus China wieder gestiegen, aber die Qualität lasse sich schlicht nicht mit europäischer Ware vergleichen. Da gibt es dann eben Nischen für Meister wie Fürst.

Neben den Kirchen hat Franz Fürst immer mehr Stammkunden, weil nach einem Besuch in der Kerzen-Sprechstunde "die meisten keine Billig-Kerzen mehr kaufen". Die sind aus reinem Paraffin, was man daran erkennt, dass das flüssige Wachs durchsichtig ist. Und nicht trüb wie bei Fürsts Kerzen. Fürst mosert in seiner Sprechstunde gekonnt über die Industriefertigung in China, wo Paraffin zu Kerzen gepresst wird, und auch ein bisschen über die Großproduktionen für gegossene Kerzen, "da wird so viel produziert, dass die zum Teil 200 Tonnen flüssiges Wachs am Tag angeliefert bekommen". Dann holt er aus zur Lobpreisung für das gezogene Wachs.

Er beginnt mit einem historischen Abriss, dass die Mönche in Klöstern zuerst Kerzen aus Talg und Bienenwachs herstellten. Später, als das Licht elektrisch wurde, war die Kerze wichtig fürs Ambiente. Fürst sagt: "Eine Flamme ist lebendig, sie hat eine Ausstrahlung, das ist einfach ein stimmungsvolles Licht." Ein kurzer Kirchenschwenk. "Die Kerze verkörpert ja noch immer auch Jesus, der sich verzehrte für die Menschen." Ein Seitenhieb auf die Konkurrenz. "Also bei Opferlichtständern mit LED - dann lasst's es lieber ganz." Und zurück zur Lobeshymne auf das Wachsziehen, dessen Erzeugnisse am Dom in fünfter Generation und seit nun 157 Jahren verkauft wird. "Wie ein Lagerfeuer oder ein Kamin, ein Licht, das man stundenlang anschauen kann, das sich immer ändert."

Und selbstverständlich hat Fürst bei sich zu Hause in Sendling, hundert Meter von der Werkstatt entfernt, auch Kerzen im Einsatz, die er pflegt. Den Docht zurückschneiden, wenn er länger als einen Zentimeter ist, in die richtige Position stellen im Raum. Und am Ende, wenn er eine Kerze ausbläst, lässt der Profi natürlich keine Rauchschwaden aufsteigen. Einer wie Franz Fürst besitzt eine Dochtzange und drückt damit die Dochtspitze kurz in die Brennschale, damit sie nicht rußt und auch am nächsten Tag wieder mit ihm spricht.

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