Humanistische Bildung:Ein Fenster in eine andere Welt

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Wenn man so wolle, sagt Gerhard Wisnewski über Platons Höhlengleichnis, dann "geht es hier um die Wahrheitssuche in Zeiten von Fake News". (Foto: Jakob Wetzel)

Gerhard Wisnewski hat mit einer Graphic Novel zu Platons Höhlengleichnis den Pegalogos-Wettbewerb des Freistaats gewonnen

Von Jakob Wetzel, München

Es habe nur ein Abschiedsgeschenk sein sollen, sagt Gerhard Wisnewski, 18. Im Sommer hat der Münchner am Wilhelmsgymnasium sein Abitur gemacht. Bei der Abschlussfeier hat er seiner Altgriechisch-Lehrerin dann eine selbst gezeichnete Schriftrolle überreicht: das Höhlengleichnis des antiken Philosophen Platon, anschaulich gemacht als Graphic Novel. Er habe sich mit der Rolle einfach nur bei seiner Lehrerin bedanken wollen, sagt Wisnewski. Doch jetzt hat er mit der Zeichnung fast schon unverhofft einen Preis gewonnen.

Der "Arbeitskreis Humanistisches Gymnasium" hat Wisnewski für seine Schriftrolle mit einem "Pegalogos" ausgezeichnet. Dieser Preis geht alle zwei Jahre an bayerische Gymnasiasten, die das Fach Griechisch als Pflichtfach belegt haben und auf kreative Weise zeigen, warum es sich lohnen kann, ein humanistisches Gymnasium zu besuchen. Den ersten Platz belegten in diesem Jahr Schülerinnen und Schüler des Wittelsbacher-Gymnasiums; sie haben eine Ausstellung über Flucht und Migration konzipiert, die von April bis Juni im Museum für Abgüsse klassischer Bildwerke an der Katharina-von-Bora-Straße zu sehen war. Wisnewski hat einen Sonderpreis bekommen.

Es ist ein sonniger Nachmittag. Wisnewski sitzt an einer Bierbank vor einer Gaststätte in der Isarvorstadt und trinkt eine Apfelschorle. Altgriechisch werde unterschätzt, sagt er. "Für viele Schüler ist das Fach versaut, weil es oft so trocken rüberkommt, und das ist schade." Die meisten wollten nach dem Abitur nichts mehr mit der Sprache zu schaffen haben. Bei ihm sei das anders.

Im Münchner Wilhelmsgymnasium lernen die Schülerinnen und Schüler von der fünften Klasse an Latein, in der sechsten kommt Englisch dazu, in der achten dann Altgriechisch. Viel schöner sei das als Latein, sagt Wisnewski. "Latein ist so starr, Griechisch hat viel mehr mit Gefühl zu tun", sagt er. Richtig gepackt habe ihn die Sprache bei der Lektüre der Ilias von Homer. Und letztlich gehe es ja nicht nur um eine Sprache, sondern um eine Kultur. "Altgriechisch ist wie ein Fenster in eine andere Welt." Und diese Welt sei ein zentraler Baustein unserer heutigen Kultur. Thukydides zum Beispiel, sagt Wisnewski. Der Athener Geschichtsschreiber habe im fünften Jahrhundert vor Christus mit seiner nüchternen, analytischen Herangehensweise das journalistische Handwerkszeug erfunden. Oder eben das Höhlengleichnis. Wenn man so wolle, sagt Wisnewski, dann "geht es hier um die Wahrheitssuche in Zeiten von Fake News".

Das "Höhlengleichnis" ist einer der bekanntesten Stellen im Werk Platons. Der Philosoph beschreibt hier den Weg zu wahrer Erkenntnis; er stellt ihn als eine Befreiung dar. Anfangs sitzen die Menschen gefesselt in einer Höhle und sehen lediglich die Schatten von Gegenständen, die hinter ihnen vorbeigetragen werden; das ist die Welt, wie sie sich den Sinnen darstellt. In einem Gedankenexperiment wird nun einer dieser Gefangenen losgebunden. Er sieht nun die Gegenstände und das Feuer, das die Schatten geworfen hat. Ungläubig und verwirrt will er sich wieder den Schatten zuwenden, doch gegen seinen Willen wird er ins Freie gezerrt, in die reale Welt. Für Platon entspricht das dem geistigen Aufstieg von der Ebene der vergänglichen Dinge hinauf in die Welt der ewigen Ideen. Oben müssen sich die Augen erst einmal an das grelle Licht gewöhnen. Daher kann der Befreite wiederum zuerst nur Schatten erkennen, dann immerhin Spiegelbilder im Wasser, dann die Dinge selbst und schließlich die Sonne; in Platons Gleichnis entspricht sie der Idee des Guten, dem obersten Prinzip allen Daseins. Die Erkenntnis ist damit vollkommen. Doch als der Befreite zu den anderen zurückkehrt, die noch immer gefangen in der Höhle hocken, da kommt er mit der Finsternis anfangs nur schwer zurecht. Und die anderen lachen ihn aus.

Seine Lehrerin habe dieses Gleichnis im Unterricht an die Tafel gemalt, erzählt Wisnewski, das seien aber eher schiefe Strichmännchen gewesen. Deshalb habe sie im Scherz gesagt: "Wenn Gerhard will, kann er ja mal eine schöne Zeichnung dazu machen." Wisnewski hatte das zuvor schon einmal getan. Im Lateinunterricht musste seiner Klasse "Das Gastmahl des Trimalchio" von Titus Petronius lesen, "das ist ein echt schwieriger Text", aber der Lehrer habe angeboten: Wer das Wandgemälde malen könne, von dem im Text die Rede ist, der bekomme eine gute Note. Wisnewski nahm den Lateinlehrer beim Wort, und offenbar hat er dabei im Lehrerzimmer von sich reden gemacht. Und so nahm er sich dann nach dem Abitur das Höhlengleichnis vor.

"Das war eine Heidenarbeit", sagt Wisnewski. Eineinhalb Wochen habe er an seiner Schriftrolle gewerkelt, mit Zeichnen, Kleben, Schreiben und Ausmalen. Er habe dem Gleichnis dabei ein bisschen von seinem Ernst und der Schwere nehmen wollen, sagt er. So wird in seiner Version anfangs hinter der Wand neben Dingen wie einem Kelch, einem Schwert und einer Krone auch eine Badeente mit Donald-Duck-Matrosenmütze vorbeigetragen. Als der befreite Mensch ins Freie gezogen wird, klammert er sich in seiner Not an eine an der Decke hängende Fledermaus. Draußen hockt Platons Protagonist Sokrates im Baum. Und als der Befreite am Ende in die Sonne blickt, trägt er eine dunkle Sonnenbrille. Er will ja nicht gleich blind werden.

Auf den "Pegalogos"-Wettbewerb habe ihn dann erst seine Lehrerin aufmerksam gemacht, nachdem er ihr die Schriftrolle überreicht habe, sagt Wisnewski. Eingeplant war das nicht. Und auch für die Zukunft hat er noch keine genauen Pläne. Er sei noch in der Orientierungsphase, sagt er. Vielleicht biete er sein Höhlengleichnis ein paar Schulbuchverlagen an, sagt er. Oder er biete Nachhilfe-Unterricht in Griechisch an, da gebe es nicht viele Lehrer. Oder er mache etwas ganz anderes. Zum Beispiel habe er am humanistischen Gymnasium zwar viel über Rom, Griechenland oder auch Ägypten gelernt, aber über Asien wisse er so gut wie nichts, dabei interessiere ihn der Kontinent sehr, sagt er. Vielleicht zeichne er ja demnächst eine Schriftrolle über Samurai.

© SZ vom 17.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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