Gesetzeslücke:Keine Krankenversicherung für Holocaust-Überlebende

Gesetzeslücke: Berthe Spiegelstein (Mitte) mit ihrer in München lebenden Tochter Rena und deren Sohn. Das Foto entstand bei einem Besuch in Deutschland, wo die 87-Jährige mangels Krankenversicherung nicht bleiben konnte.

Berthe Spiegelstein (Mitte) mit ihrer in München lebenden Tochter Rena und deren Sohn. Das Foto entstand bei einem Besuch in Deutschland, wo die 87-Jährige mangels Krankenversicherung nicht bleiben konnte.

(Foto: privat)
  • Berthe Spiegelstein entstammt einer jüdischen Familie in Frankreich, sie hat auf nahezu wundersame Weise den Holocaust überlebt.
  • In den 1960er Jahren heiratete sie den aus Polen stammenden Israel Spiegelstein, auch er ein Überlebender des Holocaust. Beide lebten bis zum Tode ihres Mannes 1991 in München. Dann jedoch erlosch ihre Krankenversicherung.
  • Weil ihr Ehemann nicht reguläres Mitglied der AOK, sondern als Verfolgter des Naziregimes über das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) versichert gewesen war, steht sie als Hinterbliebene mit leeren Händen da.

Von Wolfgang Görl

Im Sommer 2018 holte Rena Spiegelstein ihre 87-jährige Mutter Berthe für eine Weile zu sich nach München, nachdem die alte Dame, die allein in Paris lebt, gestürzt war und der Pflege bedurfte. Als es Berthe Spiegelstein zunehmend schlechter ging, schaltete ihre Tochter einen Neurologen ein, der die Patientin in die geriatrische Tagesklinik Neuperlach einwies. Dort wurde sie aber nicht behandelt, erzählt Rena Spiegelstein: "Man sagte uns, ihr stünde mit ihrer französischen EU-Krankenversicherungskarte lediglich stationäre Einweisung bei Notfällen zu, aber nicht die vom Neurologen verordnete Behandlung."

Mittlerweile ist Berthe Spiegelstein wieder in Paris, doch da hat sie niemanden, der sich dauerhaft um sie kümmern könnte. Auf Hilfe aber ist die 87-Jährige angewiesen, sie ist gebrechlich, hat zwei Schlaganfälle, die schon länger zurückliegen, hinter sich, und ist zeitweise desorientiert. Tochter Rena würde sie gerne für immer nach München holen, aber dann stünde sie sofort wieder vor dem Problem, das schon im Sommer vergangenen Jahres eine angemessene ärztliche Versorgung verhindert hatte. Ihre Mutter bräuchte eine deutsche Krankenversicherung. Diese aber hat Berthe Spiegelstein nicht. Warum? Verkürzt gesagt: Weil sie ein Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung ist.

Gesetzeslücke: Berthe Spiegelstein (Foto links) als junges Mädchen mit ihrer Großmutter in Paris. Auf Anordnung der deutschen Besatzer mussten sie den Judenstern tragen

Berthe Spiegelstein (Foto links) als junges Mädchen mit ihrer Großmutter in Paris. Auf Anordnung der deutschen Besatzer mussten sie den Judenstern tragen

(Foto: privat)

Berthe Spiegelstein entstammt einer jüdischen Familie in Frankreich, sie hat auf nahezu wundersame Weise den Holocaust überlebt. In den 1960er Jahren heiratete sie den aus Polen stammenden Israel Spiegelstein, auch er ein Überlebender des Holocaust. Von da an lebte sie als französische Staatsbürgerin bis zum Tode ihres Mannes 1991 in München. Eigene Krankenkassenansprüche hat sie während dieser Zeit nicht erworben, und weil ihr Ehemann nicht reguläres Mitglied der AOK, sondern als Verfolgter des Naziregimes über das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) versichert gewesen war, steht sie als Hinterbliebene mit leeren Händen da. Der Versicherungsschutz war mit dem Tod des Mannes erloschen - so steht es im Gesetz.

Tochter Rena Spiegelstein kämpft seit vielen Jahren und bislang vergebens darum, dass ihre Mutter eine deutsche Krankenversicherung erhält, um die jetzige Misere, die Trennung von ihren einzigen direkten Angehörigen, ihrer Tochter und ihrem Enkel, beenden zu können. Unter anderem hat sich Spiegelstein an den Zentralrat der Juden in Berlin gewandt, und dessen Antwort dokumentiert in pointierter Form, was das Problem ist: "Die Tatsache, dass Ehepartner von BEG-Rentenempfängern mit deren Versterben ihre AOK-Krankenversicherung verlieren, ist uns bekannt und nach wie vor völlig unverständlich und nicht akzeptabel. Leider ist dies nach wie vor die Gesetzeslage. Forderungen zur Änderung der Gesetzeslage werden zwar schon seit langem von uns wie auch der Claims Conference als zuständiger Organisation erhoben, leider bisher ohne Erfolg."

Die Unerbittlichkeit der Verwaltungsmühlen

Das klingt deprimierend. Das klingt wie: Blöd, aber da ist nichts zu machen. Es klingt nach juristischen Finessen und bürokratischer Routine, nach der Unerbittlichkeit der Verwaltungsmühlen, die, ohne dass ein böser Wille dahinter steckte, mechanisch ihr Werk verrichten, ungeachtet der Frage, ob das Recht immer auch gerecht ist.

Berthe Spiegelstein ist eine Frau, deren Leben, ebenso wie das ihres Mannes, durch den Rassenwahn der Nazis aus der Bahn geworfen wurde. Regulär ist da gar nichts mehr, ihre Biografie passt nur schlecht ins Regelwerk, mit dem zivile Gesellschaften ihr Zusammenleben ordnen.

Geboren 1931 in Paris, geriet sie nach der Invasion der deutschen Wehrmacht in Frankreich als junges Mädchen ins Visier der Nazis. Ein Fluchtversuch in den unbesetzten Teil Frankreichs, so erzählt ihre Tochter, scheiterte. Das Kind wurde an die Wand gestellt, und nur, weil ein deutscher Offizier Skrupel hatte, unterblieb die Ermordung. Später hat sie es dann doch über die Grenze geschafft und sich in einem kleinen Ort nahe Lyon versteckt. Für Berthes Mutter hingegen schien es keine Hoffnung zu geben. Sie steckten die Nazis in einen Zug, der nach Auschwitz fuhr. Während der Fahrt sprang sie aus dem Waggon und tauchte unter. So überlebte sie Krieg und Verfolgung, ebenso wie ihre Tochter Berthe. 1945 kehrten sie zurück nach Paris. Fürs Erste waren sie obdachlos. In ihre Mietwohnung hatte man andere einquartiert - Franzosen, die keine Juden waren.

"Vater hat nie über Auschwitz und den Krieg gesprochen"

Später hat sie in Paris Israel Spiegelstein kennengelernt, der dort gerade zu Besuch war. Die beiden wurden ein Paar. Spiegelsteins Geschichte ist in einer Publikation nachzulesen, die der Verein KZ-Gedenkstätte Hailfingen-Tailfingen herausgegeben hat: Er kam 1916 in Warschau auf die Welt und lernte den Beruf des Zuschneiders in einer Hemdenfabrik. Fast drei Jahre war er im Warschauer Ghetto, in das die Nazis die Juden unter erbärmlichen Umständen sperrten, danach deportierten sie ihn ins KZ Majdanek und im Juli 1944 nach Auschwitz. Seine Geschwister und Eltern sind von den Nazis ermordet worden.

Als die Nationalsozialisten das Vernichtungslager räumten, weil die sowjetischen Truppen heranrückten, verschleppte man ihn über einige Zwischenstationen nach Allach, in ein Außenlager des Konzentrationslagers Dachau. Im Frühjahr 1945 wurden Spiegelstein und viele andere Häftlinge Richtung Tirol getrieben, doch schließlich befreite die amerikanische Armee die Überlebenden. Einige Zeit lebte er im Displaced-Persons-Lager Feldafing, in dem die Verschleppten, Versprengten und Verfolgten Zuflucht gefunden hatten, dann zog er nach München. 1966 heirateten Israel und Berthe Spiegelstein, Tochter Rena wurde im folgenden Jahr geboren.

"Vater hat nie über Auschwitz und den Krieg gesprochen", sagt Rena Spiegelstein - mit einer Ausnahme: Im Majdanek-Prozess vor dem Landgericht Düsseldorf hat er als Zeuge ausgesagt. Er war gesundheitlich schwer angeschlagen, erzählt seine Tochter, "80 Prozent Invalide" und nicht mehr in der Lage, Vollzeit zu arbeiten. Mit einem kleinen Textilgeschäft in der Schleißheimer Straße hielt er sich über Wasser. Als Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung bekam er eine Rente gemäß dem Bundesentschädigungsgesetz. Weder er, noch seine Frau und die Tochter ahnten, dass die Ansprüche mit seinem Tod verfallen würden.

Eigene Ansprüche hatte Berthe Spiegelstein nicht erworben, weil sie nie in Deutschland gearbeitet hatte und die Pflege ihres kranken Mannes nicht als versicherungspflichtige Beschäftigung gewertet wurde. Jahre später mussten Rena Spiegelstein und ihre Mutter feststellen: "Ohne es zu wissen, waren wir niemals reguläre Mitglieder der AOK gewesen und konnten uns daher nach dem Tod meines Vater mangels der sogenannten Vorversicherungszeit auch nicht weiter in einer gesetzlichen Krankenkasse versichern."

"Er habe für seine Arbeit im KZ keine Sozialbeiträge entrichtet"

Israel Spiegelstein, der in seinen letzten Lebensjahren dement war und von seiner Frau gepflegt wurde, starb im Jahr 1991. Seine Tochter erinnert sich: "Kaum war mein Vater gestorben, erhielten meine Mutter und ich von der AOK die schockierende Nachricht, wir seien nicht mehr krankenversichert." Als besonders empörend empfand sie die Rechtfertigung. "Man hatte den Zynismus, uns zu erklären: Wäre mein Vater in Deutschland einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgegangen, wären er und damit auch wir pflichtversichert gewesen, er habe aber für seine Arbeit im KZ keine Sozialbeiträge entrichtet."

Auch eine Witwenrente nach dem Bundesentschädigungsgesetz wurde Berthe Spiegelstein verweigert. Um diese zu erhalten, hätten die Hinterbliebenen beweisen müssen, dass der Vater an einer im KZ erworbenen Krankheit gestorben war. Das sei unmöglich zu beweisen gewesen, sagt Rena Spiegelstein, "weil man meinem Vater nach dem Krieg lediglich Dinge wie Zahnverlust oder Bronchitis anerkannt hatte, aber keine gesundheitlichen Schäden, an denen man sterben kann." "Wohlwissend", vermutet sie.

Auf einen Schlag war Berthe Spiegelstein völlig mittellos geworden. Nicht einmal die Miete konnte sie bezahlen, weshalb sie sich ans Sozialamt wenden musste. Ihrer Tochter zufolge sei die damals 60-Jährige von der Behörde insofern schikaniert worden, als man ihr vorhielt, nach dem Tod des Ehemannes sei ihre Wohnung ohnehin zu groß. Berthe Spiegelstein sah keinen anderen Ausweg, als München zu verlassen. Sie entschloss sich, nach Frankreich zurückzukehren, wo sie immerhin Sozialhilfe erhält. Zudem hat sie gemeinsam mit ihrer Tochter versucht, eine Witwen- und Waisenrente gerichtlich zu erstreiten, doch die einschlägige Klage hat das Landgericht München I abgewiesen.

Rena Spiegelstein ist alleinerziehende Mutter, ihr 13-jähriger Sohn geht in München zur Schule, sie arbeitet hier als Juristin, sie hat hier ihren Lebensmittelpunkt, sie ist deutsche Staatsbürgerin ebenso wie der Filius - nach Paris zu ziehen und wieder von vorne anzufangen mit ungewissem Ausgang, möchte sie nicht riskieren. In den vergangenen Monaten hat sie sich an diverse Institutionen gewandt, um einen Ausweg aus der Misere zu finden. Sie hat die AOK angeschrieben, die Bayerische Staatskanzlei, das Münchner Sozialreferat, ja sogar die deutsche Botschaft in Paris, welche die Sache an das Auswärtige Amt weitergeleitet hat. Mit den Antwortenschreiben könnte sie bald ihre Wände tapezieren, nur eine verbindliche Zusage, die es ermöglichen würde, die Mutter nach München zu holen und ihre medizinische Versorgung zu sichern, steht in keinem der Briefe. Verständnis und Bedauern äußern sie alle, auch Ratschläge sind darunter oder die Zusicherung, den Fall an die zuständige Stelle weiterzuleiten. Und fast immer steht zu lesen: Wir bitten sie noch um etwas Geduld.

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