Mediziner:"Ich weiß, dass ich hier nichts verändern kann"

Lesezeit: 4 min

Einsatz im Elendsviertel: Kinderarzt Michael Hohlfeld untersucht sechs Wochen im Jahr kranke Kinder in Nairobi. (Foto: Birte Mensing)

Michael Hohlfeld war Kinderarzt in Herrsching am Ammersee. Jetzt ist er im Ruhestand und hilft in einer Klinik in einem kenianischen Elendsviertel aus.

Von Birte Mensing

Wart ihr im Malariagebiet? Was tut dem Kind weh? Seit wann? Fieber?", fragt die Arzthelferin die Mutter auf Kisuaheli. Michael Hohlfeld hört das Kind ab. Er ist Kinderarzt aus München, seine Arzthelferin Eveline Otieno ist Dolmetscherin aus Nairobi. Sechs Wochen lang behandeln sie jeden Tag 30 bis 40 kranke Kinder. Ihr Arbeitsort: Raum 5 der ambulanten Klinik Baraka im Slum Mathare, am nordöstlichen Rand von Kenias Hauptstadt Nairobi. Knapp neun Quadratmeter, eine Liege, ein Schreibtisch, drei Stühle. Vor der Türe reihen sich Holzbänke, voll besetzt mit wartenden Müttern mit ihren Kindern.

Öffentliche oder private Krankenversicherungen sind in Kenia selten, nur ein Viertel aller Kenianer ist abgesichert. Alle anderen zahlen aus der eigenen Tasche. 18 Euro kostet ein Besuch beim Arzt - mindestens. Viele der Bewohner des Slums Mathare können sich einen regulären Arztbesuch nicht leisten. Und an diesem Punkt beginnt die Arbeit von Hilfseinrichtungen wie der Baraka Klinik. Dort kostet die Untersuchung samt Medikamenten nur umgerechnet zwei Euro. Kinder, die jünger als fünf Jahre alt sind, werden kostenlos behandelt. In Kenia kommen Nichtregierungsorganisationen für ein Viertel der Gesundheitsausgaben auf.

Genitalverstümmelung
:Kampf gegen eine grausame Tradition

Die weibliche Beschneidung ist in Deutschland verboten, dennoch leiden immer mehr Frauen und Mädchen in München darunter. Der Stadtrat hat erkannt, dass er etwas tun muss.

Von Melanie Staudinger

Der Verein "German Doctors" hat die Klinik in diesem Elendsviertel 1997 gegründet und sorgt seitdem mit fünf ehrenamtlich tätigen deutschen Ärzten und Spendengeldern für den Betrieb. Die Ärzte in dem Programm arbeiten jeweils sechs Wochen in Kliniken in Kenia, Sierra Leone, Indien, Bangladesch und auf den Philippinen. Dort hatte Hohlfeld 2008 seinen ersten Einsatz, als er noch seine Praxis am Ammersee betrieb. Heute ist der 75-Jährige, wie viele der Ärzte, die nach Nairobi kommen, im Ruhestand.

"Ich wollte Albert Schweitzer werden", sagt Hohlfeld. Im Ausland arbeiten - das hat ihn schon als junger Mediziner gereizt. Aber er wurde Kinderarzt in Herrsching am Ammersee. Erst im Ruhestand eifert er seinem Vorbild in Afrika nach. Seit 2014 hat er mit Eveline Otieno jedes Jahr sechs Wochen zusammen behandelt: Lungenentzündungen, Malaria, Grippe, Entwicklungsprobleme, Vitaminmangel, Fehlernährung, Infekte. Die meisten Behandlungen klappen gut, nur für komplizierte Untersuchungen fehlen die Geräte.

Arzthelferin Otieno ruft die nächste Patientin auf. Das Mädchen zeigt ihren Ausschlag am Bein. "Komm doch auch kurz gucken", bittet der Arzt die Übersetzerin. Sie kennt sich mittlerweile gut aus, ihre Meinung ist ihm wichtig. Sie einigen sich: Es ist nicht nur ein Ausschlag, sondern wohl ein Hautpilz. "Also, was verschreiben wir?", fragt Otieno. "Eine Salbe mit Cortison und Paracetamol", antwortet Hohlfeld.

"Wer trägt dann das Risiko?"

"Ich könnte das auch alleine", sagt Otieno, "aber wer trägt dann das Risiko?" Sie fing vor zehn Jahren als Putzfrau in der Klinik an, zwei Jahre später wurde sie schon als Übersetzerin eingestellt. Einige deutsche Kollegen sind der Meinung, dass die Arzthelferin viele Eigenschaften besitzt, um eine gute Ärztin werden zu können. Aber ein Studium kann sich Eveline Otieno nicht leisten, sie muss drei Kinder ernähren.

Chronisch Kranke, die zum Beispiel an Tuberkulose erkrankt oder mit HIV infiziert sind, werden ausschließlich von kenianischem Personal betreut. Doch kenianische Ärzte einzustellen, um die deutschen Ärzte zu ersetzen, ist zum einen schwierig, weil es in Kenia zu wenig Fachärzte gibt. Zum anderen wäre es schlicht zu teuer. Außerdem nehmen sich die deutschen Ärzte mehr Zeit für den Einzelnen, weil sie nicht darauf angewiesen sind, Geld zu verdienen, sagt George Audi, der Leiter der Klinik. Er erzählt von den Schwierigkeiten im Slum: regelmäßig Stromausfall, hohe Jugendarbeitslosigkeit, Frustration, Gewalt während der Wahlen. Dass die deutschen Ärzte immer nur vorübergehend hier arbeiten, akzeptiert er. Wichtig ist ihm die gute Versorgung der Patienten. Aber in jüngster Zeit sei es schwierig, rechtzeitig Arbeitsgenehmigungen für die deutschen Ärzte zu bekommen, sagt er.

Die deutschen Ärzte wohnen zusammen in einem Haus außerhalb des Elendsviertels. Um das Leben der Patienten besser zu verstehen, geht jeder deutsche Arzt während der sechs Wochen in Nairobi einmal mit zu den Hausbesuchen einer Sozialarbeiterin der Klinik. An diesem Donnerstagmittag ist Michael Hohlfeld an der Reihe. "Die Sonne macht das ein bisschen erträglicher", sagt er. Die Situation ist bedrückend: sehr beengte Häuser aus Wellblech, in denen chronisch kranke Menschen wohnen, meist nur mit einem Bett und zwei, drei Stühlen eingerichtet.

"Wir haben hier eine Patientin für Sie, Doktor Michael", sagt die Sozialarbeiterin. Eigentlich ist Hohlfeld nur als Beobachter dabei. Die junge Frau kann sich kaum bewegen, liegt in einem Verschlag, wartet auf einen Rollstuhl. "Ein hoffnungsloser Fall", sagt Hohlfeld. "Ich weiß gar nicht, was ich hier soll." Er kann nichts machen, sagt er. "Ich weiß, dass ich hier nichts verändern kann." Das zu akzeptieren, fällt ihm nicht immer leicht.

Leserdiskussion
:Hungersnot in Jemen: Welche Hilfe ist nötig?

Die Hungersnot in Jemen verschlimmert sich immer weiter. UN-Nothilfekoordinator Lowcock hat zu einer humanitären Waffenpause und mehr Geld für Hilfslieferungen aufgerufen.

Zurück in der Klinik sagt Hohlfeld: "Wenn man merkt, unter welchen Bedingungen die Patienten zum Teil leben, verschreibt man anders." Er gebe hier schneller Antibiotika und Paracetamol, weil die Häuser zugig sind und die Kinder in Mathare nicht die gleichen Erholungsbedingungen haben wie die Kinder am Ammersee. Auch weil die Eltern sonst nicht zufrieden sind. "In Deutschland ist man ein guter Arzt, wenn man nichts verschreibt. Hier, wenn man viel verschreibt", sagt Hohlfeld. Ein Mädchen kommt in das Behandlungszimmer. Es weint - bis es die Matchboxautos auf dem Tisch entdeckt und sich damit beschäftigt, solange der Arzt es untersucht. "Ist sie eine Auto-Kandidatin?", fragt Hohlfeld die Arzthelferin. "Ich glaube ja", sagt Otieno. Der Kinderarzt holt eine Tüte mit Autos aus dem Hängeschrank und lässt ein blaues Rennauto auf dem Boden zum Mädchen rollen. Das Mädchen darf das Auto mitnehmen. Vier Kilogramm Autos hat Hohlfeld vor seiner Reise im Internet bestellt, zwei bis drei Fahrzeuge verschenkt er am Tag.

Klinikleiter George Audi wünscht sich mehr Unabhängigkeit von den Deutschen. Die Klinik habe sich um Aufnahme in den nationalen Krankenhaus-Versicherungsfond beworben, darüber könnten zumindest die wenigen krankenversicherten Patienten abgerechnet werden. George Audi will so den kenianischen Eigenanteil an der Finanzierung der Klinik von fünf auf 25 Prozent anheben.

Die Schwere hinter sich lassen

Ganz vorsichtig deutet Audi eine weitere Entwicklung an: Es gebe schon einen kenianischen Arzt, der immer dienstags ehrenamtlich Patienten betreut. "Wir brauchen noch mehr davon", sagt Audi. Mit durchschnittlich mehr als 1500 Euro Einkommen gehören die Ärzte in öffentlichen Krankenhäusern zur besser verdienenden Bevölkerung, ein bisschen ehrenamtliche Arbeit wäre also drin. "Wenn eines Tages die German Doctors ihre Unterstützung einstellen, müssen wir schließlich weitermachen."

Gegen halb vier leert sich die Wartehalle der Klinik. Während Eveline Otieno noch das Behandlungszimmer wischt und für den nächsten Tag vorbereitet, geht Michael Hohlfeld mit zwei deutsche Kollegen schwimmen. Den Staub vom Tag, die Schwere hinter sich lassen, damit er am nächsten Tag wieder bereit ist, sich um die kranken Kinder in Mathare zu kümmern.

© SZ vom 17.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Fachkräftemangel
:Wer Krankenpfleger wird, muss viel aushalten können

Das wollen immer weniger junge Leute. Deshalb wird in aller Welt nach Mitarbeitern gesucht. Fünf von ihnen berichten von ihren Erfahrungen.

Von Martina Scherf

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: