Hodenkrebs:"Sie können immer etwas für den Patienten tun, auch wenn Sie ihn nicht heilen können"

Hodenkrebs: Marcus Hentrich arbeitet als Onkologe im Münchner Rotkreuzklinikum. Zu ihm kommen junge Männer mit der Diagnose: Hodenkrebs.

Marcus Hentrich arbeitet als Onkologe im Münchner Rotkreuzklinikum. Zu ihm kommen junge Männer mit der Diagnose: Hodenkrebs.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Zehn von 100 000 jungen Männern erkranken an Hodenkrebs. Onkologe Marcus Hentrich kümmert sich um Patienten im fortgeschrittenen Stadium.

Von Inga Rahmsdorf

Zu Marcus Hentrich kommen junge Männer, die ihr Leben noch vor sich haben. Manchmal sind es sogar Jugendliche, die zusammen mit ihren Eltern vor dem Arzt sitzen. Mit der Diagnose Hodenkrebs. Gerade die sehr jungen Patienten haben sich meist noch keine Gedanken darüber gemacht, ob sie selbst einmal Kinder bekommen möchten. Hentrich versucht sie dann trotzdem davon zu überzeugen, ihre Spermien einfrieren und lagern zu lassen. Denn er weiß, seine Patienten haben zwar gute Heilungschancen, doch wenn die jungen Männer eine hoch dosierte Chemotherapie bekommen, sind sie hinterher nicht mehr zeugungsfähig.

Dritte Etage im Münchner Rotkreuzklinikum an der Nymphenburger Straße, Abteilung für Innere Medizin. Marcus Hentrich, weißer Kittel, offenes Lachen, ruhige Stimme, bittet in sein Büro. Ein kleines, helles Eckzimmer, in dem ein Schreibtisch, Bücherregale und ein runder Besprechungstisch stehen. Der Chefarzt ist Hämatologe und Onkologe, ein Spezialist für Hodenkrebs und für bösartige Erkrankungen des Lymphgewebes und des Knochenmarks. Tumoren im Hoden treten zwar im Vergleich zu anderen Krebsarten relativ selten auf, besonders oft sind aber junge Menschen betroffen. Bei Männern zwischen 15 und 40 Jahren ist es mit Abstand die häufigste Krebserkrankung. In dieser Altersgruppe erkranken etwa zehn von 100 000 Männern daran.

Oft geht es in den Gesprächen mit seinen Patienten um existenzielle Fragen. Um Leben und Tod. Und später darum, wie die Betroffenen bestmöglich mit den starken Nebenwirkungen leben können. Die Diagnose Krebs reißt jedem erst einmal den Boden unter den Füßen weg. Eine Erkrankung am Hoden ist zudem oft mit Scham besetzt. Auch wenn es längst nicht mehr so schlimm sei, wie vor 20 Jahren, sagt Hentrich. Damals fiel es Männern noch viel schwerer, wegen Beschwerden am Hoden zum Arzt zu gehen. Glücklicherweise hätten junge Männer heute eine bessere Körperwahrnehmung und oft auch weniger Hemmungen, sich an einen Urologen zu wenden.

Hentrich ist vor dreieinhalb Jahren vom städtischen Klinikum Harlaching an das Rotkreuzklinikum gewechselt, um die Abteilung neu zu gründen. Braucht München wirklich noch eine weitere onkologische Abteilung? Das hat er sich damals zunächst gefragt, als er das Angebot erhielt. Doch dann entschied er sich dafür, den Schritt zu gehen. Und er hat ihn nicht bereut. "Es war eine schöne Aufgabe, die Abteilung aufzubauen und jetzt auch weiterzuentwickeln", sagt der Professor, der in Bonn, München, Wien und London studiert und sich an der Ludwig-Maximilians-Universität habilitiert hat.

"Meine ärztlichen Kollegen und das Pflegeteam sind außergewöhnlich gut und sehr motiviert", sagt Hentrich. Und er genießt es, sich neben der klinisch-wissenschaftlichen Tätigkeit ganz auf seine Patienten konzentrieren zu können. "Ich wünsche mir eine gut laufende Abteilung, in der die Patienten auf hohem medizinischen Niveau und mit Zugewandheit betreut werden", sagt der Mediziner. Dann hält er plötzlich inne, lacht etwas überrascht und entschuldigt sich dafür, dass er so viel redet.

Der Arzt ist es nicht gewohnt, dass es die ganze Zeit um ihn geht. Sonst ist er derjenige, der den Patienten zuhört, der gemeinsam mit den Betroffenen überlegt, welche Therapieform und welche Schritte die richtigen sind. "Wir müssen den Patienten da abholen, wo er steht - sein Wunsch ist immer maßgeblich", sagt Hentrich. Und wenn eine Heilung nicht mehr möglich ist? "Sie können immer etwas für den Patienten tun, auch wenn Sie ihn nicht heilen können." Dann gehe es darum, die Lebensqualität zu verbessern und zu schauen, dass der Patienten möglichst wenig Schmerzen und Beschwerden habe.

Wenn der Hodenkrebs früh erkannt wird, sind die Heilungschancen in der Regel sehr hoch, dann liegen sie bei 98 bis 99 Prozent. Ist der Krebs aber weit fortgeschritten, sinken sie deutlich. Zu Hentrich kommen vor allem die Patienten, bei denen der Krebs bereits in einem fortgeschrittenen Stadium ist. Menschen, die einen Rückfall erlitten haben oder bei denen der Tumor bereits gestreut und Metastasen gebildet hat. Die Männer und Jugendlichen sind nicht nur aus München und Umgebung, sondern sie werden auch von Urologen und Kliniken bayernweit und sogar aus dem gesamten Bundesgebiet an das Rotkreuzklinikum verwiesen.

HIV-Patienten haben ein erhöhtes Risiko für Krebs

Hentrich und seine Kollegen wenden bei schwierigen Fällen auch spezielle Behandlungen und sehr intensive Chemotherapien an. Weil durch die chemischen Substanzen die Blutbildung geschädigt wird, gewinnen die Ärzte zunächst Stammzellen aus dem Blut des Patienten, frieren diese ein und lagern sie. Nach der Chemotherapie bekommen die Patienten ihre eigenen, zuvor entnommenen Stammzellen wie eine Bluttransfusion wieder zugeführt. Weil ihr Immunsystem so geschwächt ist, müssen sie etwa eine Woche in isolierten Räumen verbringen. Sobald sich die Blutbildung regeneriert hat, und es den Patienten wieder besser geht, können sie für einige Tage nach Hause entlassen werden. Bis die zweite Chemotherapie beginnt.

Mitte der 1990er-Jahre, als Hentrich noch Assistenzarzt war, traf er in der Klinik immer wieder Patienten, die an HIV erkrankt waren und einen Tumor hatten. HIV-Patienten haben ein erhöhtes Risiko für Krebs, doch niemand wusste damals so genau, welche Therapie für sie die beste sei. Ob sie die HIV-Medikamente während der Chemotherapie einnehmen sollten. Hentrich arbeitete sich in das Thema ein, begann zu forschen und erstellte eine Studie. Vor fünf Jahren wurde er dafür mit dem Deutschen Aids-Preis ausgezeichnet.

Wenn er außerhalb der Klinik erzählt, dass er Onkologe sei, hört er oft: Oh, wie schrecklich, immer mit Siechtum, Tod und Krebs zu tun zu haben. Doch das sei ein ganz falsches Bild, sagt Hentrich. Die Onkologie sei sehr dynamisch, anspruchsvoll und innovativ. In den vergangenen 25 Jahren habe sich so viel getan, die Therapiemöglichkeiten haben sich verbessert, und die Heilungschancen seien zum Teil stark gestiegen. "Es ist schön, daran teilnehmen zu können", sagt er.

Und Hentrich schätzt die enge Beziehung zu seinen Patienten, die er in der Regel über Jahre hinweg oder sogar lebenslang begleitet. Manchmal bekommt er auch nach fünf oder zehn Jahren von seinen Patienten noch eine Karte oder eine E-Mail. Natürlich begegnet er als Onkologe auch medizinischen Herausforderungen und menschlichen Schicksalen, bei denen er auch als Arzt nicht immer am Feierabend abschalten kann. "Aber das ist in Ordnung. Das ist mein Beruf", sagt Hentrich. Im Laufe der Jahre habe er auch gelernt, die notwendige Distanz zu wahren, ohne dadurch die Empathie zu verlieren.

Traum: Ärzte ohne Grenzen

Dass er Arzt geworden ist, hat er seinem Zivildienst zu verdanken. Als Schüler hatte er überhaupt keinen Bezug zu dem Beruf. In seiner Familie gab es keine Mediziner, in Chemie und Physik war er nicht besonders gut - und er konnte kein Blut sehen. Hentrich wollte Philosophie, Geschichte und Musik studieren. Bei seinem Zivildienst im Altenheim merkte er jedoch, wie viel man bewirken kann bei alten und kranken Menschen, indem er bei ihnen war, mit ihnen geredet und Späße gemacht hat. Von da an stand sein Berufswunsch fest. Er wollte Arzt werden, eng mit Menschen zusammen arbeiten und unmittelbar wirken.

Seine Tochter studiert mittlerweile auch Medizin, Hentrich freut sich darüber. "Dabei habe ich ihr nie explizit dazu geraten", sagt er. Es hat ihn sogar ein wenig überrascht, dass sie sich auch dafür entschieden hat. Sie hat schließlich als Kind erlebt, dass er viel arbeiten musste und oft nicht zu Hause war. "Aber sie hat wohl auch erlebt, dass die Arbeit sehr erfüllend sein kann", sagt er. "Es ist ein toller Beruf."

Und neben dem Alltag als Chefarzt und Onkologe? Wenn er mehr Zeit hätte, würde Hentrich gern mehr lesen, nicht nur medizinische Bücher, sondern auch Belletristik. Und wieder klassische Gitarre spielen. Und eigentlich wollte er auch immer schon einmal für "Ärzte ohne Grenzen" arbeiten. Das schafft er derzeit nicht. Aber irgendwann möchte er sich diesen Traum auch noch erfüllen.

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