Süddeutsche Zeitung

Verlagsjubiläum:Unikate, die Bände sprechen

Der Wohnzimmer-Lyrikverlag "Hochroth München" publiziert außergewöhnliche Gedichte im bibliophilen Design. Dass der kleine Verlag fünften Geburtstag feiern kann, liegt an der Liebe zur Lyrik und dem Mangel an Alternativen.

Von Greta Hüllmann, München

"Wir sollten das auf keinen Fall tun", sagte Tristan Marquardt irgendwann im Winter 2015 zu Tim Holland. Die Rede war von der Gründung eines Lyrikverlages. Über Lesereihen wie "Meine drei lyrischen Ichs" hatte sich eine Gruppe von Dichterinnen und Dichtern in München etabliert, deren Texte jedoch keinen Verlag fanden. Immer häufiger seien Anfragen gekommen, wo Texte unterkommen könnten, erinnert sich Marquardt: "Es fehlte ein Ort." Tristan Marquardt und Tim Holland hatten beide bereits Gedichte veröffentlicht und bespielten die Lyrikszene seit Jahren. Sie wussten, dass die neuen, aufregenden Gedichte aus Süddeutschland wahrscheinlich nie ihren Weg aufs Papier finden würden, wenn sie keinen Raum schafften. Sie wussten aber auch um das Risiko und den Zeitaufwand, den ein Verlag neben dem Hauptberuf fordert.

Holland kam schließlich die Idee, bei einem bestehenden Verlag einzusteigen, und er brachte rasch den Namen Hochroth ins Spiel. Das Berliner Lyrikverlagskollektiv wurde 2008 von Marco Beckendorf mit einem so simplen wie genialen Konzept gegründet: Gedichte werden in kleinen, bibliophilen Bänden in der eigenen Wohnung gedruckt, geleimt und versendet - jedes Werk ein nummeriertes Unikat. Produziert wird nach Bedarf, wodurch kein Vertrieb und auch kein hohes Startkapital benötigt werden. Die Bücher finanzieren sich selbst, Gewinne oder Verluste gibt es nicht. Mittlerweile entstanden, zusätzlich zum Berliner Verlag, Dependancen mit spezifischen Programmschwerpunkten in Wiesenburg, Leipzig, Bielefeld, Heidelberg und seit Herbst 2017 auch in München.

"Bücher brauchen Zeit, und manche Texte waren Geburten."

Marquardt und Holland folgten damals dem Motto: "Wir sind da, wir legen los" und veröffentlichten die ersten beiden Gedichtbände. Hochroth Berlin vererbte eine in die Jahre gekommene Schneidemaschine, andere Hochroth-Verlage stifteten Papier und Umschläge. "Die Bücher entstehen bei mir im Wohnzimmer", sagt Marquardt, und das auch noch heute, fünf Jahre später. In der Zwischenzeit wurde das Duo zum Trio, als der Freund und Journalist Hannes Munzinger einstieg. Die Ziele der drei, den Worten der Dichterinnen und Dichter aus dem Süden ein Zuhause zu geben und vielfältige Stimmen und Schreibweisen sichtbar zu machen, sind erreicht. Zehn Gedichtbände sind erschienen, zwei wurden als Bayerns Beste Independent-Bücher ausgezeichnet. 2021 wurde Hochroth München die Verlagsprämie des Freistaats Bayern für das Projekt "handverlesen" verliehen. Die Jury begründete das damit, dass Hochroth einen herausragenden Platz in der Verlagslandschaft einnehme und bezeichnete "handverlesen" als "ganz außergewöhnliches Projekt".

Das Attribut "außergewöhnlich" fasst die Hochroth-Lyrik tatsächlich adäquat zusammen. Da gibt es neben "handverlesen", das sich gebärdensprachlicher Poesie widmet, indem es Lyrik in Gebärdensprache und Gebärdenpoesie in Lautsprache übersetzt, auch noch "Leipzigيّاt", den fünfsprachigen Gedichtband von Xoşewîst. Die Gedichte sind auf Deutsch, Englisch, Hocharabisch, Kurdisch und Spanisch verfasst. Jedes Gedicht verfügt über ein fünfsprachiges Glossar und QR-Codes, die zu Vertonungen führen. "Bei uns kannst du Dinge machen, die andere nicht übernehmen", stellt Marquardt fest.

Die Publikationen geben ihm Recht. "Leipzigيّاt" war mit mehr als 500 verkauften Exemplaren der Liebling von Publikum und Feuilleton. Eine derart hohe Auflage für den kleinen Verlag, der sonst 200 Exemplare verkauft, sei eine Überraschung gewesen. Die Arbeit an Xoşewîsts Text habe Jahre gedauert, sagt Holland. "Bücher brauchen Zeit, und manche Texte waren Geburten." Zwei bis vier Bücher publiziert die Gruppe pro Jahr, "ehrenamtlich aus Leidenschaft", wie Marquardt sagt. Die Unikate werden für einen Stückpreis von acht Euro verkauft - den man spielerisch verdreifachen könnte -, um Gedichte für alle zugänglich zu machen. Holland sieht dahinter eine politische Haltung, die Lyrik vielfältiger in Stimme, Form und Rezipierenden mache. "Wir verstehen uns als Sprungbrett für noch weniger etablierte Autor:innen", fügt Marquardt hinzu.

Über die Bedeutung von Gedichten und sorgsam gedruckte Bände im Zeitalter des Internets und Self-Publishing macht Marquardt sich keine Sorgen. "Das Objekt Buch hat eine Wertigkeit, und Unikate haben eine besondere Ästhetik." Problematischer seien für die Verleger die fehlende bundesweite Förderung von Lyrik, Corona und die steigenden Papierkosten aufgrund des Ukraine-Krieges. "Während der Pandemie konnten wir kaum Sichtbarkeit herstellen", sagt Holland. "Uns gibt es seit fünf Jahren, die Hälfte war Corona." Umso sehr freuen sich die beiden auf das Jubiläumsfest, zu dem alle Autorinnen und Autoren erscheinen und zwei Neuerscheinungen präsentiert werden. "Es ist wirklich sensationell und überraschend gut gelaufen", resümiert Holland, und Marquardt nickt: "Ich bin total glücklich."

Hochroth Jubiläumsfest, Fr., 7. Okt., 19 Uhr, Lyrik Kabinett, Amalienstraße 83 A

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