Um in der Zukunft zu landen, muss man gar nicht weit in die Vergangenheit zurückgehen. In den März zum Beispiel, in dem die Schriftstellerin Lena Gorelik ein Corona-Tagebuch begann. Vor kurzem hat sie bei einer Freiluftlesung aus diesen Krisen-Aufzeichnungen vorgetragen und dachte irritiert: "Das wirkt jetzt schon wie ein Science-Fiction-Roman." So als hätte ihr jemand als Schreibübung aufgegeben, sich in eine ferne Welt zu beamen: "Es wirkt schon wieder total irreal." Zurück in die Zukunft? Oder doch lieber: volle Kraft voraus in eine andere, unbekannte, bessere Welt? Spricht man mit der Münchner Schriftstellerin in diesem Sommer über ihre Visionen, für ihre eigene Arbeit, für diese Stadt, für diese Gesellschaft, dann fallen immer wieder Stichworte wie "Zerbrechlichkeit" und "Inklusion". Wenn Lena Gorelik davon erzählt, was sich für sie in den vergangenen Monaten verändert habe, so spricht sie von einem gestiegenen "Bewusstsein um unsere Zerbrechlichkeit", ob gesundheitlich oder wirtschaftlich. Und davon, dass sie es nicht mehr aushalten könne, wenn sich die Gedanken vieler Menschen nur um sich selbst drehten. Wohin es statt dessen gehen solle? Stärker hin zum Gedanken einer Inklusion eben, in einem sehr umfassenden Sinne. Und um das zu erklären, muss man jetzt doch erst einmal ein bisschen ausholen.
Man könnte damit beginnen, woran Lena Gorelik gerade arbeitet. Die Schriftstellerin, mit inzwischen etlichen Romanen wie "Meine weißen Nächte" oder "Die Listensammlerin" erfolgreich, schreibt derzeit unter anderem an einem neuen Roman. Um Erinnerung und Familie soll er kreisen und um die Frage: Wem gehören Geschichten, von welchen Erinnerungen darf man erzählen? Gorelik merkt beim Schreiben, dass sich der Blick auf die eigene Familie in den vergangenen Monaten gewandelt hat: "Ich habe so eine Zärtlichkeit entwickelt, eine unglaubliche Milde und ein Verständnis gegenüber meinen Eltern, einer älteren Generation."
Doch auch die jüngere Generation nimmt sie derzeit in den Blick: Ihren Jugendroman "Mehr schwarz als lila" schreibt sie gerade für das Residenztheater um, außerdem entwickelt sie zusammen mit dem Pathos München ein Kindertheaterstück. Und erkennt angesichts der veränderten Bedingungen, dass man auch das Theater neu denken muss, die Räume, die Zuschauer: "Man muss freier denken." Theater, das vielleicht vom Saal in den virtuellen Raum wandert, könne ja beispielsweise auch woanders als sonst stattfinden, in einer Garage etwa.
Aber braucht es nicht trotzdem immer eine professionelle Beleuchtung und sonstige Technik? Genau zu diesem Thema "brauchen" hat Gorelik vor einigen Wochen einen Vortrag gehalten, beim digitalen Arbeitstreffen "Spurensuche" über die Zukunft der Darstellenden Künste für ein junges Publikum. Sie hat sich dafür den Begriff "brauchen" einmal näher angeschaut: "Ich hatte das Gefühl, es ist ein Begriff der Privilegierten." Nur ein Kind, das schon sehr viel habe, sage Sätze wie: "Ich brauche dieses Lego-Paket." Ein Kind, das wenig habe, sage eher "Ich wünsche, ich träume" von etwas. Ganz oft, glaubt Gorelik, würde man den Begriff "denen entwenden, die ihn tatsächlich brauchen". Und sie wünscht sich, "dass wir, die wir privilegiert sind, das revidieren". Damit wäre man bei der Ausgangsfrage: Was brauchen eigentlich Theater? Gerade freie Theater hätten ja nie genug Geld, sagt Gorelik, und immer gehe es dann um Themen wie Beleuchtung, Musik und was man noch so für nötig halte. Vielleicht müsse man anders denken? "Vielleicht wird es dann einfacher."
Das Thema "brauchen" beschäftigt Gorelik nicht von ungefähr. Die 1981 in Sankt Petersburg geborene Schriftstellerin, die mit ihrer Familie in den Neunzigern als "Kontingentflüchtling" nach Deutschland kam und sich mühsam eine neue Sprache und Welt erschloss, hat ein feines Gespür für Privilegien, für Ausgrenzungen, Vereinnahmungen. In München erlebe sie das Leben als "wahnsinnig segregiert", sagt sie und erzählt von einer Erfahrung, die sie in diesem Jahr besonders bestürzt hat: Bei einer Schreibwerkstatt in einer Mittelschule am Innsbrucker Ring wurde ihr nicht nur klar, wie sehr diese Kinder jetzt schon als Verlierer gelten. Sie sah auch den krassen Unterschied zu einer nahen Montessori-Schule, die jeden Morgen von Kindern mit Geigen, Fechtausrüstung und Biokäse auf den Broten betreten wird. "Das sind zwei Lebensrealitäten. Weder die einen noch die anderen haben eine Ahnung davon, dass sie in derselben Stadt leben", sagt sie, "ihre Lebenswege werden sich niemals begegnen. Und das festzustellen, tat so weh!"
Diese Trennung gibt es überall, das ist Gorelik bewusst, "aber in München nochmal ein Stück mehr". Auch viele Orte der Kultur seien bestimmten Gruppen vorbehalten. Wenn die Kinder am Ende der Schreibwerkstätten im Literaturhaus vorläsen, dann merke man, dass die Eltern von diesem Haus eingeschüchtert seien; sie wüssten erst einmal gar nicht, wie man es findet, weil sie noch nie in diesem Teil der Stadt waren. Ihre eigenen Kinder wiederum seien noch nie in Milbertshofen gewesen, weil sie da niemanden kennen. Wie man all das ändern könne? Lena Gorelik weiß das auch nicht so genau, "ich bin doch nicht in der Politik!" Natürlich habe es mit Besiedlungskonzepten zu tun, mit Schulen, Bildung. Auch Kultur könne ja ein "öffnendes Element" sein. Insgesamt gehe es darum, andere Menschen mehr mitzudenken: "Was wir bräuchten, ist das Gefühl, nicht alleine auf der Welt zu sein."
Es ist ein Gefühl des Miteinanders, das wir offensichtlich immer nötiger, ja: brauchen. Denn es sind ja keine leeren Phrasen, dass Rechtsextremismus, Antisemitismus, Rassismus in jeder Form stärker werden. Lena Gorelik kennt sich damit leider sehr gut aus, nicht nur weil sie vor Jahren ein hinreißendes Buch geschrieben hat, dessen Titel "Lieber Mischa" in folgenden Untertitel übergeht: "der du fast Schlomo Adolf Grinblum geheißen hättest, es tut mir so leid, dass ich Dir das nicht ersparen konnte: Du bist ein Jude". Tatsächlich spürt Gorelik selbst, dass sich der Antisemitismus im Laufe des vergangenen Jahres "total gesteigert" hat: "Es wird viel, viel schlimmer. Ich merke das auch an Drohungen." Schon längst hat sie ihren Namen auf dem Klingelschild ihrer Wohnung entfernt, zum Beispiel.
Macht sie das verzagt oder kämpferisch? "Kämpferisch", sagt sie entschlossen. "Mich macht verzagt, wenn ich das Gefühl habe, wie wenige Menschen sich dessen bewusst sind." Sie selbst tut einiges dafür, Bewusstsein zu schaffen. Sie schottet sich nicht ab im Reich der Literatur, der Phantasie, sondern mischt sich immer wieder in der realen Welt ein. Sie schreibt Reden für Wochen gegen Rassismus, Zeitungsartikel zu aktuellen Anlässen, diskutiert auf Podien zum Holocaust-Gedenktag. Sie gibt Schreibwerkstätten, "auch gerne an Mittelschulen", und überhaupt ist es ihr ein Anliegen, so zu schreiben, dass es viele lesen können, "nicht nur die, die studiert haben und zumindest Latein-Grundkurs hatten". Denn Sprache, so weiß sie, "kann ja auch öffnend sein".
In ihrem neuen Roman experimentiert sie deshalb: Sie lässt russische Begriffe, für die sie keine deutsche Entsprechung findet, einfach stehen. "Weil ich glaube, dass jede Sprache durch eine andere erweitert werden kann. Sie darf nicht so etwas Ausschließendes haben." So könnte in der Sprache, wie auch in allen anderen Lebensbereichen, ob es nun Religionen sind oder Lebensmodelle, die Mischung immer bunter werden. Irgendwann, nach und nach, entsteht so vielleicht der "Mischmasch", von dem Lena Gorelik träumt. In diesem Traum haben abwertende Ideen von gestern, die in die Gegenwart ragen, keine Zukunft mehr. Aus Ausgrenzung wird Inklusion, und in einer Komposition des schönen Zufalls entsteht ein vielstimmiges Durcheinander.
