Süddeutsche Zeitung

Himmlische Aussichten. SZ-Serie, Folge 11:In der Stimme liegt die Macht

Seit die Menschen in Belarus auf die Straße gehen, richten sich alle Wünsche der Musikerin Polly Lapkovskaja Richtung Minsk. Sie hat die weißrussische Staatsbürgerschaft - und hofft, dass das Land eine demokratische Zukunft hat

Von Cora Wucherer und Christiane Lutz

Wenn sie das Rauschen der Straße wegnimmt, das Vogelgezwitscher und das Brummen der Bohrmaschine auf der Baustelle nebenan oder die Musik aus den Lautsprechen, dann kann Polina Lapkovskaja nach innen hören. Um sich konzentrieren zu können und kreativ zu sein, muss sie Störgeräusche ausblenden, die Stille zulassen. Oft gelingt ihr das auf ihrer Dachterrasse ihrer Wohnung in der Nähe des Hauptbahnhofs, manchmal aber ist es auch da zu laut. Lapkovskaja macht Musik mit ihrer Band Pollyester, arbeitet als Performance-Künstlerin und schreibt Musik und Sounds für Theaterinszenierungen.

Seit einiger Zeit aber ist es ihr beinahe unmöglich, Stille zu finden. Genauer gesagt, seit die Proteste in Belarus losgingen. Denn Polina Lapkovskaja wurde 1982 in Minsk geboren und kam erst 1993 nach München. Es ist also keine Zeit für Stille, es ist auch keine Zeit für München. Es ist Zeit, die Stimme für Belarus zu erheben.

So sitzt Lapkovskaja Mitte September also in der lauten Bar Centrale in der Innenstadt und fühlt sich gänzlich am falschen Ort. "Durch Corona erleben wir doch alle eine Infragestellung unserer Beziehungen, Lebensmodelle, sozialen Umgebung. Was mich so berührt ist, dass die Weißrussen unter der Macht eines Präsidenten, der das Virus komplett geleugnet hat, einen Weg finden, friedlichen Prostest zu machen. Nur durch die körperliche Präsenz als Statement, das ist einmalig, das gab es so noch nie", sagt sie. Seit Wochen aber steht sie in Kontakt mit weißrussischen Künstlerinnen und Künstlern, auch mit alten Freunden der Familie, die von den Protesten berichten. "Es zieht mich total dort hin, ich will unterstützen und will mit meiner leibhaftigen Präsenz zeigen, auf welcher Seite ich stehe", sagt sie. Als Einzige in ihrer Familie hat sie noch den weißrussischen Pass, der Rest der Familie ist eingebürgert. Warum sie den nie hergeben wollte, ist ihr selbst nicht ganz klar "Ich wusste, irgendwann kommt die Frage, was ich mit dem Land noch zu tun habe. Die Antwort ist: wahnsinnig viel." Einfach hinreisen geht natürlich nicht, sie hat eine Tochter, die in München zur Schule geht, außerdem gab es beim letzten Besuch in Belarus Probleme mit ihrem Pass, denen sie erst nachgehen muss. Also tut sie, was sie kann: gibt Interviews zu dem Thema, macht in den sozialen Medien darauf aufmerksam. Auf eine Soli-Demo am Odeonsplatz kamen gerade mal 40 Menschen, in München hat Weißrussland keine große Community. "Ich würde gern in meinem Arbeitsfeld, im Theater, das Thema in einem Projekt aufgreifen und ein Stück zu Weißrussland machen", sagt sie, "aber das wird noch eine Weile dauern."

Ein paar Wochen zuvor noch beschäftigten sie vor allem andere Themen: die Zukunft der Münchner Clubszene und die des Theaters. Beides sind ihre Bereiche, und beide sind tief vom Virus getroffen, vor allem die Clubszene, die praktisch nicht mehr existiert. Weil Konzerte nicht so möglich sind, wie es Lapkovskaja sich wünscht, suchte sie nach neuen Formaten. Sie arbeitet etwa an einem Filmprojekt, für das sie Kreative aus unterschiedlichen Sparten zusammenbringen will. Diese Paare sollen mehrere Tage in Abgeschiedenheit zusammenleben und dabei "völlig kühne Ideen entwickeln, die gerne über das Ziel hinausschießen". Aus den Begegnungen soll dann ein Kunstfilm entstehen. Am Theater immerhin darf wieder geprobt und gespielt werden, wenn auch nur vor kleinem Publikum. Gerade hat Lapkovskaja am Maxim Gorki Theater ein Projekt mit Regisseurin Marta Górnicka gemacht, die für ihre chorischen, rhythmischen Inszenierungen bekannt ist. Vergangene Spielzeit war sie eine der Hexen in Amir Reza Koohestanis Inszenierung von "Macbeth" an den Kammerspielen, wo sie auf der Bühne Shakespearetexte raunte und sang, die sie vertont hatte. Ihre Präsenz ist einnehmend, stets etwas rätselhaft, was an ihren sehr langen, dunklen Haaren liegen mag, hinter denen sie sich gut verstecken kann.

Zukunftsfragen an Polly Lapkovskaja

Sie stehen am Friedensengel in fünf Jahren und überblicken die Stadt. Was sehen Sie?

Ich möchte mich nicht aus dem Fenster lehnen, das können Propheten machen. Ich sehe mich selbst, wie ich die Stadt überblicke und mich vor allem darüber wundere, dass es gar nicht so anders ist verglichen mit jetzt.

Wie klingt für Sie die Zukunft?

Still.

Wem sollte in dieser Stadt in fünf Jahren ein Denkmal gesetzt sein? Warum?

Für mich sind die Menschen die Helden unserer Zeit, die die Krisen bekämpfen, die es schon vor der Pandemie gab - wie die Flüchtlingssituation am äußeren Gürtel Europas. Aber historische Notsituationen waren schon immer Türöffner für Menschen, die sich in den Vordergrund gespielt haben, um später selbst in Stein gemeißelt zu werden. Ich bin in Belarus geboren. Jetzt ist die Zeit, Denkmäler einzureißen.

In fünf Jahren kommt ein Hollywood-Film namens "Munich" ins Kino. Worum wird es darin gehen?

Der Film liebt ein Jubiläum! Ich habe in die Stadtchroniken gesehen, was ein geeigneter Filmstoff wäre, um 100. Geburtstag zu feiern. 1925 wurde das Deutsche Museum eröffnet. In Bogenhausen wurde eine Ski-Sprungschanze errichtet. Der Studienprofessor Dr. Baumann hielt einen Vortrag über die Lösung des Weltsprachenproblems: eine Weltsprache aus deutschem Wortschatz und englischer Grammatik. Und die NSDAP hielt eine Versammlung ab, die wegen des hohen Andrangs kaum unter Kontrolle zu bringen war.

"Als Musikerin aber bin ich an dem Innenklang interessiert", sagt sie noch, "nicht an etwas Expressivem, das sich nach außen wendet." Sie experimentiert auch mit binauralen Beats, einem Phänomen aus der Psychoakustik, bei dem Frequenzen festgehalten werden, die bestimmte Bewusstseinszustände soundtechnisch abbilden sollen. Mit einem Ingenieur hat sie ein Instrument entwickelt, das solche Beats produziert. Eigentlich wollte sie es der Öffentlichkeit präsentieren, dann kam Corona.

Natürlich hat sie sich immer wieder Gedanken zu München und zur Zukunft der Stadt gemacht, bevor die Proteste begannen. Etwa die finanzielle Wertschätzung von Kunst. "Die Pandemie bietet auch die Möglichkeit für ein Geraderücken von Dingen, die ihren Preis haben", sagt sie. "Für Solokünstler wie mich sind Soforthilfen praktisch ausgefallen, weil unsere Betriebskosten in unserem Gehirn begraben liegen." Oder auch der dringende Wunsch nach undefinierten Räumen, "nach rettenden Inseln, auf denen wir Künstler unter Ausschluss der Öffentlichkeit und ohne Beobachtung Dinge entwickeln können, die erst mal ergebnisoffen sind und ins Blaue gehen", sagt sie. Aber diese Gedanken scheinen ihr angesichts dessen, was in Weißrussland los ist, jetzt fast belanglos. Vor dem Negativ der Proteste wirkt München wie die heile Welt, dafür empfindet sie auch so etwas wie Dankbarkeit. "Wir sind verwöhnt hier und wissen nicht zu schätzen, was es bedeutet, so ausgestattet zu sein. Man kann den Weißrussen gar nicht erklären, was es heißt, eine Krankenversicherung zu haben, eine Demokratie, in der man eigentlich immer einen Ansprechpartner hat. Wenn die Menschen dort auf den Protesten angegriffen werden, können sie diese Sicherheitskräfte nicht mal anzeigen."

Ihre Zukunftsvisionen richten sich also alle nach Osten, nach Belarus. "Ich wünsche den Weißrussen das Erwachen aus diesem, nun ja, dem Wachkoma, in dem die so viele Jahre gelebt haben. Dieser Wahlbetrug ist ein Gewaltakt am Volk, weil es seiner Stimme entledigt wurde. Und das Volk spürt jetzt, dass man dagegen protestieren kann. Ich wünsche mir, dass es weiter in diese Richtung geht. Dass die Helfer von außen an konstruktiver Weiterentwicklung des Landes interessiert sind. Sprich: Ich wünsche eine Orientierung Richtung EU, nicht Richtung Russland." Polina Lapkovskaja wird erst mal ihren Lebensmittelpunkt in München belassen. Aber sie wird, sobald es geht, nach Belarus reisen, um dort laut zu sein.

Alle Teile der Serie finden sie auf sz.de/himmlisch

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URL:
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Quelle:
SZ vom 24.09.2020
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