Kalter Herbstwind bläst über die kahlen Felder. Die junge Frau mit dem kurzen weißen Rock und Stiefeletten mit Schlangenmuster steht am Rand einer kleinen Landstraße. Sie blickt auf den braunen Acker, kreist mit den Hüften, ein roter Schwerlaster hält neben ihr. Das Mädchen steigt ein. Sie verkauft ihren Körper für ein bisschen Geld, Geld fürs nackte Überleben.
Ein paar Kilometer weiter ragen Schiffskräne in den Himmel. Zwei Mädchen, vielleicht 15 Jahre, gehen über die staubige Straße, sie tragen Babys auf dem Rücken, ihre Kinder. Sie leben am Rand der Gesellschaft, am Rand Europas. In Pobeda, einem Viertel der bulgarischen Hafenstadt Burgas. Pobeda heißt "Sieg". Doch hier leben Tausende Menschen ohne Hoffnung. Es gibt keine Arbeit, nur Armut. "Bieg hier links ab, aber langsam", sagt Desi Teneva. Überall stehen Kinder, Männer, Mädchen, sie betrachten misstrauisch das Auto, das langsam durch die Schlaglöcher fährt. "Lächeln", sagt Teneva, "immer lächeln." Sie hat Angst, dass die Stimmung auf der Straße umschlägt, dass plötzlich einer auf das Auto einschlägt, das durch das Armenviertel fährt. "Weißt du, wer keine Bildung hat, kennt seine Grenzen nicht", sagt sie.
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2,6 Millionen Euro jährlich will das Sozialreferat ausgeben, um bedürftigen Rentnern etwa mit kostenlosen Mittagessen zu helfen. Sozialarbeiter sollen in Parks und auf Friedhöfen darauf hinweisen.
Das Auto stoppt neben einer alten Baracke. In den vier kleinen Räumen ist das Projekt "Florika" zu Hause. Desi Teneva hat vor zehn Jahren mithilfe der Münchner Organisation Jadwiga damit begonnen, jungen Mädchen aus dem Viertel eine zweite Heimat zu geben und ihnen zu helfen auf ihrem Weg in eine unsichere Zukunft. "Wir wussten nicht, ob wir auf dem richtigen Weg waren", sagt Teneva heute. Die Sozialpädagogin begann einfach damit, junge Mädchen mit Freizeitangeboten von der Straße zu holen. "Wir haben Nähkurse angeboten und den Mädchen Kochen beigebracht, alles, um ihnen Selbständigkeit und Selbstwertgefühl beizubringen", sagt Desi Teneva. "Hier ist es warm, es gibt zu essen - und die Eltern der Kinder wissen, dass sie hier sicher sind."
Auf den Straßen von Pobeda sind sie oft nicht sicher. Wenn die Eltern überhaupt Arbeit finden, reicht es meist nicht zum Leben. Viele der Mädchen werden mit 13 Jahren von der Schule genommen und mit 14 Jahren verheiratet. Doch die jungen Ehemänner haben meist auch nichts, keine Schulbildung, nicht einmal einen Führerschein, um als Lkw-Fahrer Geld zu verdienen. Viele junge Frauen aus Pobeda werden von ihren Männern zur Prostitution gezwungen. Manche bieten sich Touristen in den nahen Hotelburgen am Goldstrand und Sonnenstrand an, andere werden nach Deutschland geschickt. Auch nach München.
Hier treffen die Mitarbeiterinnen von Jadwiga die Frauen aus Bulgarien wieder. Oft sind sie völlig verstört und verängstigt, viele wussten gar nicht, wohin sie gebracht werden und dass sie als Prostituierte arbeiten müssen. Kalina Milenkovska sitzt im Besprechungsraum von Jadwiga und erzählt von einer jungen Frau aus dem bulgarischen Plovdiv. "Ihr Freund hat ihr versprochen, dass sie in Deutschland eine gute Zukunft haben werden", sagt die Sozialarbeiterin. Doch als sie in München waren, musste sie auf den Strich gehen, das Geld strich ihr vermeintlicher Freund ein. Als er genug hatte, verließ er die junge Frau, ging zurück nach Bulgarien und baute sich ein Haus. Die junge Frau, ein klassischer Fall von Menschenhandel und Zwangsprostitution. Kein Einzelfall, auch nicht in München.
"Ich frage mich immer: Wo sind deren Mütter?"
Knapp 3000 Frauen sind hier derzeit offiziell als Prostituierte angemeldet, das Kreisverwaltungsreferat (KVR) geht davon aus, dass etwa 2400 legal auf den Strich gehen. Wie hoch die Dunkelziffer ist, weiß niemand genau zu sagen. In diesem Jahr wurden lediglich 25 Bußgeldverfahren gegen Frauen eingeleitet, die sich nicht nach dem Prostituiertenschutzgesetz angemeldet haben. Im KVR geht man deshalb davon aus, dass die seit 2017 bestehende Meldepflicht auf eine "breite Akzeptanz" bei den Frauen und den Bordellbetreibern stoße, wie KVR-Sprecher Johannes Mayer sagt. Die Polizei sieht das ähnlich. Bernhard Feiner, Leiter des Kommissariats 35, das in München für Menschenhandel, Prostitution und Zuhälterei zuständig ist, schätzt, "dass sich 98 Prozent der Prostituierten freiwillig angemeldet haben".
Er sehe auch nicht, dass es in München einen Zuhälterring oder gar eine Zuhältermafia gebe. "Das sind Einzeltäter", sagt Feiner. Sogenannte Freunde, die die Frauen auf den Strich schicken, ihnen ein Zimmer geben, etwas zu essen und ein Handy. "Die Zustände in ihrem Heimatland sind oft so gravierend schlechter, dass sich die Frauen oft gar nicht als Opfer ansehen", selbst wenn man ihnen nahezu alles Geld abnehme, sagt Feiner. Und doch kennt der Kriminalhauptkommissar Fälle, in denen Frauen damit gedroht wurde, einem ihrer Kinder in der Heimat den Arm abzuhacken, wenn sie zur Polizei geht.
Wenn Feiner und sein Team auf Frauen treffen, bei denen sie Zwangsprostitution vermuten, wenden sie sich meist an die Frauenhilfsorganisation Jadwiga an der Schwanthalerstraße. "Mit Jadwiga klappt die Zusammenarbeit wirklich toll", sagt Feiner. Die Mitarbeiterinnen des Vereins sprechen 14 Sprachen, einige stammen von der Balkanhalbinsel und kennen die Lebensverhältnisse vieler Frauen in Südosteuropa allzu gut. Vor allem Roma werden oft gezwungen, ins Ausland zu gehen, um sich zu prostituieren und das Geld in die Heimat zu schicken. "Ich frage mich immer: Wo sind deren Mütter?", sagt Kalina Milenkovska von Jadwiga. Sie weiß, dass die Verzweiflung die Frauen in die Ferne treibt, sie lassen sich ausbeuten und missbrauchen. Sie arbeiten nicht nur als Prostituierte, sondern auch in Sozialberufen und als Zimmermädchen in teuren Hotels, oftmals für einen Hungerlohn.
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Migranten üben dort seit einem Jahr, Deutsch zu lesen und zu schreiben. Das Angebot wird von Ehrenamtlichen organisiert - kostenlos und ohne starre Strukturen.
Doch "die Zahl der Frauen, die hier in der Prostitution arbeiten, ist schon hoch", sagt Juliane von Krause, die Geschäftsführerin von Jadwiga. Allein im vergangenen Jahr betreute Jadwiga in den Büros in München und Nürnberg 237 Frauen, die sexuell ausgebeutet wurden. Die meisten dieser Opfer, etwa 170, arbeiteten in München. "Was mich wütend macht, ist, wie die Not der Menschen in Bulgarien oder anderen südosteuropäischen EU-Ländern ausgenutzt wird - sei es in der Arbeit oder der Zwangsprostitution", sagt von Krause. "Unsere Bordelle, unsere Taxifahrer, die Freier und so weiter profitieren davon." Manchmal denke sie, "wir sind eine Gesellschaft, die moderne Sklaverei toleriert. Wie könnte sonst so wenig gegen die massive Ausbeutung getan werden?"
Die Frauen, die zu Jadwiga kommen, sind oft verstört oder verunsichert. Manche haben nicht einmal warme Kleidung zum Anziehen. Bei der Hilfsorganisation erhalten sie zunächst alles, was sie brauchen, Kleider, Essen und medizinische Hilfe. Auch ein Zimmer kann Jadwiga kurzfristig organisieren. Etwa, wenn die Polizei die Frauen braucht, um den Zuhälter zu schnappen und vor Gericht zu bringen. Viele Frauen wollen nach ihrem Martyrium aber einfach nur wieder zurück in ihre Heimat. Jadwiga kümmert sich dann um die Rückfahrt und womöglich eine kleine finanzielle Starthilfe. Doch daheim erwartet die Frauen nicht immer ein warmer Empfang, schließlich mussten sie als Ernährerin nach Deutschland gehen. "Das kann schon eine Stigmatisierung sein, wenn das Opfer in seine Heimat zurückkehrt", sagt Kriminalhauptkommissar Feiner.
Manchmal haben die Frauen aber Glück, und sie können mit ihrer Familie in eine andere Stadt ziehen. Dabei versucht auch die Polizei von München zu helfen. "Wir versuchen, einen gewissen Schutz im Heimatland fortzuführen", sagt Feiner. Doch das funktioniert nur in wenigen Einzelfällen. Denn "unser Vertrauen zwischen den Polizeien ist eingeschränkt". Feiner muss offenbar befürchten, dass ein von der Münchner Polizei eingeweihter Dorfbeamter in Bulgarien oder Rumänien sein Wissen über das Opfer ausnutzt.
Bei Florika im Armenviertel von Burgas versuchen die Helferinnen und Helfer deshalb dafür zu sorgen, dass die Mädchen gar nicht erst nach München oder anderswo gehen müssen. In dem alten Haus neben der Schule lernen die Kinder verschiedene Fertigkeiten, die Sozialpädagogen bringen den Kindern vor allem Selbstbewusstsein bei. Die Mädchen kommen entweder vor der Schule oder im Anschluss vorbei, spielen oder malen gemeinsam, regelmäßig können sie mit einer Tanzlehrerin tanzen. "Wir haben momentan zwei Gruppen mit jeweils 13 bis 15 Mächen", sagt die pädagogische Leiterin von Florika, Gabi Panaystova. "Wir haben aber nur Mädchen, die auch zur Schule gehen." Vielen der Roma-Mädchen, die in Pobeda mit seinen etwa 7000 Einwohnern leben, können sie also gar nicht helfen.
Dabei sprechen sie auch mit den Eltern der Kinder, sagen ihnen, dass es wichtig ist, dass die Mädchen einen Schulabschluss machen. Sie laden auch die Mütter zu Florika ein, bringen ihnen Haareschneiden bei und Nähen, damit sie vielleicht einmal einen kleinen Laden aufmachen können und ihre Töchter nicht ins Ausland schicken müssen.
An diesem Vormittag im Herbst kommen drei Mädchen von der Straße hereingelaufen. Sie sind Freundinnen, gehen zur Schule nebenan, lernen Englisch und Bulgarisch, zu Hause sprechen die Kinder mit ihren Eltern nur ein Gemisch aus Romanes und Türkisch. Beba, ein zierliches Mädchen, stellt sich artig vor, "Stay cool" steht in Glitzerschrift auf ihrem Pulli. Dann zählt sie auf Englisch auf, was sie in den vergangenen drei Schuljahren gelernt hat: "Six, seven, eight, nine", sagt Beba und lacht. Elf Jahre ist Beba alt, so wie ihre Freundinnen. Wenn sie viel Glück hat, kann sie in ein paar Jahren einen Schulabschluss machen und einen Beruf ergreifen. Wenn nicht, wird sie wohl in drei Jahren zwangsverheiratet.