Hilfsaktion an der Nordsee:Wege ebnen im Schlamm

Hilfsaktion an der Nordsee: Halb Mondlandschaft, halb Müllhalde: Ungefähr 1800 Menschen, zumeist kurdische Flüchtlinge aus Irak und Syrien, hausen in dem Lager Grande-Synthe nahe der französischen Stadt Dünkirchen.

Halb Mondlandschaft, halb Müllhalde: Ungefähr 1800 Menschen, zumeist kurdische Flüchtlinge aus Irak und Syrien, hausen in dem Lager Grande-Synthe nahe der französischen Stadt Dünkirchen.

(Foto: AP)

Helfer der Münchner "Volxküche" versuchen, die elenden Bedingungen in einem nordfranzösischen Flüchtlingslager zu verbessern.

Von Christian Wernicke

Man sollte meinen, dass niemand freiwillig an einem solchen Ort verweilt: Wer in das Lager von Grande-Synthe vordringen will, der versinkt knöcheltief in grau-braunem Schlamm. Halb Mondlandschaft, halb Müllhalde: Überall türmen sich Abfälle auf, zwischen den dünnen Plastikzelten steigt Uringestank auf.

Ungefähr 1800 Menschen, zumeist kurdische Flüchtlinge aus Irak und Syrien, hausen in diesem Sumpf nahe der französischen Stadt Dünkirchen - und mittendrin leben acht Freiwillige aus Bayern: Aktivisten der Münchner "Volxküche" haben mitten im Morast unter großen Planen ihre Gulaschkanone aufgebaut und versuchen, den Gestrandeten von Grande-Synthe zu helfen.

Ursprünglich wollte die Volxküche kochen

Sinan von Stietencron ist einer von ihnen. Im Sommer hatte der 31-jährige Philosoph und Überlebenstrainer mit angepackt, als die "Volxküche" in der Richelstraße täglich bis zu 5500 Asylsuchende mit warmen Mahlzeiten versorgte. Jetzt, da kaum noch Flüchtlinge an die Isar kommen, sind Stietencron und seine Mithelfer an die Nordsee gezogen.

Dorthin, wo nahe französischer Häfen Tausende Migranten hoffen, irgendwie auf einen Lkw, eine Fähre oder auf einen Zug durch den Eurotunnel bei Calais klettern zu können, um sich illegal nach England durchzuschlagen. "Wenn die Flüchtlinge nicht mehr zu uns nach München kommen", sagt von Stietencron und lächelt, "na - dann kommen wir eben zu ihnen." Ursprünglich wollte die Volxküche tun, wozu sie eben da ist: Kochen.

Bis zu 2000 Rationen lassen sich aus der schwarzen Gulaschkanone schöpfen, die unter dem Vorzelt im Matsch steht. Doch meist bleibt das Gefährt kalt. Die meisten Familien im Lager versorgen sich selbst, rühren auf rostigen Kleinöfen oder Gaskochern die Gerichte an, die sie von zu Hause kennen.

Die findigen Helfer aus München haben sich schnell umgestellt. Sie spezialisieren sich auf andere, drängendere Probleme im "Dschungel" (so nennen die Insassen ihr Lager, in Anlehnung an den berühmten "Jungle" von Calais). In Grande-Synthe gibt es nur zwei Wasserstellen (mit 16 Hähnen für 1800 Menschen). Und weil das Wasser eiskalt ist, konnten die Flüchtlinge ihr Essgeschirr nirgendwo reinigen. Die Volxküchler haben nun "Wasch-Straßen" gebaut: drei große Bottiche voller heißem Spülwasser, das sie auf ihrem Ofen erhit-zen.

Mit einer zweiten Idee ziehen die Münchner nun überall ihre Spur durchs Camp. Sie weben Wege: Die simple Konstruktion, bei der man Holzlatten zwischen Hanfseile steckt und verknotet, erinnert auf den ersten Blick an wackelige Hängebrücken aus der Wildnis.

Zustände "schlimmer als erwartet"

Hilfsaktion an der Nordsee: Aus Brettern und Hanfseilen fertigt Sinan von Stietencron begehbare Pfade durch den Schlamm.

Aus Brettern und Hanfseilen fertigt Sinan von Stietencron begehbare Pfade durch den Schlamm.

(Foto: Christian Wernicke)

Und tatsächlich hat Benjamin Grösche, ein anderer VoKü-Helfer, im wahren Dschungel von Peru einst einmal mitgebaut an solchen Wegen über Abgründe. In Grande-Synthe sind die "Webstücke" der Münchner drei bis fünf Meter lang und einen Meter breit. Ausgelegt auf den schlammigen Trampelpfaden helfen sie, sicherer und ein klein wenig sauberer durchs Lager zu kommen.

Solche Web-Wege lassen sich auch aus Plastikplanen oder zerrissenen Zelten, aus Altkleidern und den Ästen gefällter Bäume knüpfen. Von Stietencron möchte so zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: "Wir stabilisieren die Wege - und wir beseitigen ein bisschen von all dem Müll, der hier herumliegt."

Der Volxküchler räumt offen ein, dass die Zustände in Grande-Synthe "schlimmer sind, als wir erwartet hatten". Alle zwei Wochen wechselt die VoKü-Mannschaft. Nicht nur der allgegenwärtige Dreck, der klebrige Schlamm und das Elend der Kinder im Sumpf nagen an den Nerven. Es lauert blanke Gewalt im Lager: Flüchtlinge berichten, drei Schlepperbanden hätten sich den "Dschungel" untereinander aufgeteilt - und wenn es Konflikte gibt, fallen nachts Schüsse.

Auch das ist ein Grund dafür, warum viele Familien zentrale Sammelstellen meiden und weshalb die bayerische Gulaschkanone bestenfalls auf Sparflamme kocht. Denn bei der Essensausgabe drängeln sich meist eh die Anführer von Gangs und Clans vor. "Die greifen alles ab - und versuchen, ihre Beute danach an die wirklich Bedürftigen zu verkaufen", erzählt eine Helferin.

Die Volxküchler können nicht begreifen, dass die französische Regierung in Paris "diese unmenschlichen Verhältnisse" tatenlos hinnimmt. Nicht Paris, sondern die private Hilfsorganisation "Médecins Sans Frontières" (MSF) ist es, die nun nahe Grande-Synthe ein neues, menschenwür-diges Lager aus Hütten und Zelten errich-tet. Mehr als zwei Millionen Euro wird das Camp für ungefähr 2500 Menschen kos-ten. Die Münchner packen bei der Einrich-tung der zentralen Lagerküche mit an.

In einer Woche soll das neue MSF-Camp seine Pforten öffnen. Nur, längst nicht alle Flüchtlinge, die von der Reise nach England träumen, werden dort Platz finden. Es dürfte noch etwas dauern, ehe die deutschen Freiwilligen ihre Gulaschkanone aus dem Schlamm von Grande-Synthe abziehen können.

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