Süddeutsche Zeitung

Telefonseelsorge:Eine Million Mal zuhören

Seit 50 Jahren arbeiten bei der Evangelischen Telefonseelsorge rund um die Uhr Freiwillige. Das Angebot ist in der Großstadt unverzichtbar.

Von Thomas Anlauf

"Für 20 Pfennig Rat und Hilfe" titelt die Süddeutsche Zeitung, als die Evangelische Telefonseelsorge in München ihre Arbeit aufnimmt. 57 ehrenamtliche Mitarbeiter waren es damals, die in der Thierschstraße Tag und Nacht als Ansprechpartner für Menschen in Not am Telefon da waren. Heute, 50 Jahre später, ist das Angebot natürlich kostenlos und das Evangelische Beratungszentrum ist mit der Telefonseelsorge in die Landwehrstraße umgezogen, aber die Grundsätze sind geblieben: Die Beratungen sind anonym, wer Probleme hat, kann sich jederzeit bei den heute 110 ehrenamtlichen Telefonseelsorgern melden, Tag und Nacht, wochentags wie an Feiertagen.

Eine Million Anrufe sind seit jenem Tag im Mai 1968 bei der Telefonseelsorge eingegangen, dazu kommen seit einiger Zeit auch Chats und E-Mail-Kontakte. Es sind Menschen aller Schichten und aller Altersgruppen, die sich in ihrer Not an die Seelsorger wenden. Oft ist es Einsamkeit, die sie zum Telefonhörer greifen lässt, Schicksalsschläge und psychische Krankheiten. "Allein, dass ich weiß, dass ich jederzeit anrufen könnte, spart mir einige Anrufe", hat ein Mann einmal Norbert Ellinger am Telefon gesagt.

Der Pfarrer leitet die Evangelische Telefonseelsorge seit dreieinhalb Jahren und übernimmt auch heute noch hin und wieder eine der fünf Stunden langen Schichten. "Wir haben einige, die regelmäßig anrufen. Für die sind wir ein soziales Netz", sagt Ellinger. Er erzählt von einer Frau, die häufig bei der Seelsorge anrief. Zwei Jahrzehnte lang sprach sie mit den Beratern, die hörten ihr geduldig zu und nahmen sie mit ihren Problemen ernst. Als sie schließlich starb, hinterließ sie einen Abschiedsbrief. Darin schrieb sie, dass die Telefonseelsorge sie 20 Jahre lang am Leben gehalten habe.

Die Seelsorger müssen sich oft Geschichten von harten Schicksalsschlägen anhören. Dafür werden sie intensiv geschult, ein Jahr lang werden sie einmal wöchentlich und an mehreren Wochenenden für ihr schwieriges Ehrenamt von Experten ausgebildet. Oft sind es Menschen, die etwas zurückgeben wollen in ihrem Leben. Menschen, die selbst eine Prüfung hinter sich haben. So wie die ehrenamtliche Seelsorgerin, die sich am Telefon mit Grazia vorstellt und seit 13 Jahren Telefondienst macht. Die Kunsthistorikerin verlor durch eine schwere Krankheit fast ihre Stimme. Als sie ihr Leiden überstanden hatte, wollte sie ganz bewusst bei der Telefonseelsorge mitarbeiten. "Das Wichtigste ist: Ich bin da, ich höre zu, ich zeige Empathie", sagt die 64-Jährige. Nach schwierigen Gesprächen sucht sie den Kontakt zum Kollegen, mit dem sie ihre Fünfstundenschicht teilt. In Extremfällen kann sie sich auch an die hauptamtlichen Kollegen der Telefonseelsorge wenden, etwa an Norbert Ellinger oder dessen Stellvertreterin Martha Eber.

Schwierige Gespräche gibt es häufig. "Eine Schicht ohne ein Gespräch über Suizidgedanken gibt es kaum", erzählt der Journalist, der sich bei Gesprächen oder in Chats mit "Josef" meldet. Oftmals könne man auch als Seelsorger den Gesprächspartnern gar nicht wirklich helfen. Josef erzählt von einer depressiven Frau, die am Ende des Telefonats sagte, dass es ihr nun auch nicht besser gehe. Also stand Josef auf und zog in der Bibliothek irgendein Buch aus dem Regal - es waren Kalendersprüche. Die Texte waren oft besinnlich und nicht gerade erheiternd, bis er ein Gedicht über den Mai fand, das las er der Frau vor. Sie stutzte und sagte: "Aber ich heiße ja Mai." Manchmal hilft bei der Seelsorge auch ganz einfach Glück.

"Es sind Menschen, die für andere Menschen da sein wollen", sagt Pfarrerin Gerborg Drescher, die Vorsitzende des Evangelischen Beratungszentrums. "Dass Menschen - ohne dass es ihr Beruf ist - ihre Zeit und ihre Energie für andere geben, ist unser Erfolgsrezept." Natürlich steckt auch viel Logistik und Geld hinter der Telefonseelsorge. Die ehrenamtlichen Mitarbeiter müssen ständig weitergeschult werden, sie brauchen funktionierende Arbeitsplätze mit Telefon und Computer, sie brauchen Essen während der Sprechstunden und nachts ein Bett, um auch einmal auszuruhen von den oft anstrengenden Gesprächen oder Chats. Während die Anrufer meist wechselnde Gesprächspartner haben, können sich E-Mail-Kontakte schon mal über ein halbes Jahr bis ein Jahr hinziehen.

Viele Menschen, die sich bei der Telefonseelsorge melden, sind oder waren bereits bei anderen sozialen Einrichtungen. Doch die Anonymität hilft ihnen oft, sich weiter zu öffnen. Diese Anonymität halten die Seelsorger sehr hoch. Sie sehen nicht die Telefonnummer des Anrufers, auch auf der Telefonrechnung erscheint die Nummer der Seelsorge nicht, damit der Partner oder Eltern nicht davon erfahren, dass er Hilfe am Telefon sucht. Die Nummern der Telefonseelsorgestellen sind übrigens bundesweit gleich: 0800-111 0 111 für die evangelische und 0800-111 0 222 für die katholische. Die Anrufer werden automatisch an die ihnen am nächsten gelegene Seelsorgestelle weitergeleitet.

Für eine Großstadt wie München ist die Hilfe der Telefonseelsorge unverzichtbar. Viele Menschen, die sich melden, sind einsam und wissen nicht, an wen sie sich wenden sollen in ihrem Leid. Die Ehrenamtlichen von der Telefonseelsorge sind einfach da. Und sie hören zu.

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SZ vom 07.11.2018/bhi
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