Hilfe für suizidgefährdete Jugendliche:"Es gibt immer einen Ausweg"

Ein Hilfeschrei, der Eltern und Freunde wachrütteln soll: Wenn Jugendliche an Selbsttötung denken, geht es ihnen oftmals gar nicht darum, sich das Leben zu nehmen. Meistens wollen sie auf eine scheinbar unerträgliche Situation aufmerksam machen und ihr somit entkommen: Liebeskummer, Demütigung in der Schule, Streit der Eltern. Es gibt deutliche Warnsignale.

Stephan Handel

Eine Eisenbahn fährt im Kreis, immer im Kreis - keine Weiche, keine Abzweigung, kein Bahnhof. Doch die sinnlose Fahrt ohne Start, ohne Ziel und ohne Ausweg bekommt eine neue Perspektive beim Blick auf das, was die Bahn noch bewegt: Im Mittelpunkt des Gleis-Kreises schaut ein Teleskop in den Himmel, der Zug dreht es rundherum und weist dem Blick den Weg: zu den Sternen.

Sturmhimmel hinter der Scheibe

Der Blick auf die Welt ist bei suizidgefährdeten Jugendlichen meist getrübt und verengt. Die Heckscher-Klinik versucht, die Ursachen herauszufinden.

(Foto: dpa)

Im Jahr 2003 hat der Künstler Albert Hien diese Installation für das Foyer der Heckscher-Klinik in Giesing geschaffen - selten einmal finden Kunst am Bau und der Ort ihrer Präsentation so augenfällig zusammen: Der Spielzeug-Zug verweist auf die Kinder und die Jugendlichen, die hier zur Behandlung kommen, in die Jugend-Psychiatrie. Und das Fernrohr in den Himmel kann ihnen vielleicht zeigen, woran sie selbst oft nicht mehr glauben wollen: dass es Licht gibt, einen freien Blick, einen Ausweg.

900 Patienten werden in der Heckscher-Klinik pro Jahr stationär aufgenommen - ein Drittel davon denkt zumindest am Anfang der Behandlung daran, nicht mehr leben zu wollen. Zwar bleibt die Anzahl der Jugendlichen, die den Gedanken zur Tat werden lassen, in Bayern seit Jahren einigermaßen stabil und schwankt um die 50.

Doch Franz Joseph Freisleder, Ärztlicher Direktor der Klinik, hält jeden davon für einen zu viel: "Selbstmordversuche bei Jugendlichen haben oft appellativ-demonstrativen Charakter", sagt er - es gehe nicht darum, sich wirklich das Leben zu nehmen, sondern um den Versuch, einer als ausweglos erlebten Situation zu entkommen oder auf sie aufmerksam zu machen. Ein Hilfeschrei.

"Es gibt immer einen Ausweg", sagt Freisleder. Dazu aber sei es notwendig, auf die Gründe zu schauen - und das ist oft eben nicht das Offensichtliche, das, was zunächst erzählt wird. Der Liebeskummer, der im Suizidversuch endet, könnte ein Hinweis auf ein schwach ausgeprägtes Selbstbild sein, ebenso wie schlechte Noten in der Schule: Der Mensch wird so schwer gekränkt, dass er nicht mehr weiterleben will. Mangelhafte Schulleistungen können aber auch Ausdruck einer Überforderung sein. Es können auch manifeste psychische Erkrankungen hinter Suizidversuchen stecken, Depressionen, Schizophrenie oder das Borderline-Syndrom.

Nach dieser Diagnose richtet sich die Behandlung. Depressionen können gut mit Medikamenten behandelt werden. Wer leicht gekränkt ist, dem hilft vielleicht eine Gesprächstherapie. Bei einem Leistungstest kann herausgefunden werden, welche Schule die richtige für den Patienten ist.

Hier kommen auch oft die Eltern ins Spiel: Gelegentlich tun sie ihrem Kind nichts Gutes, wenn sie es ohne Rücksicht durch das Gymnasium prügeln wollen, auch wenn es vielleicht auf der Realschule besser aufgehoben - und glücklicher - wäre.

In vielen Fällen sind die Eltern das eigentliche Problem. Freisleder erinnert sich bis heute an seinen jüngsten Patienten: Sieben Jahre war dieser alt, als er vor der elterlichen Wohnungen über das Treppengeländer kletterte und drohte, er werde nun hinunterspringen. Das war in mehrerer Hinsicht ungewöhnlich: "Kinder wissen nicht, dass Leben endlich ist", sagt der Psychiater. "Deshalb haben sie auch kein Todeskonzept."

Bei dem Siebenjährigen war es so, dass die Eltern in einem Dauerkonflikt steckten - sie trennten sich, versöhnten sich, trennten sich wieder. Dieses Hin und Her nahm den Sohn so mit, dass er zu der drastischsten Möglichkeit griff, die ihm einfiel - und eingefallen ist sie ihm, das glaubt Freisleder, weil er es womöglich bei einem Streit der Eltern gehört hatte: "Wenn du mich verlässt, bringe ich mich um." In diesem Fall wurde den Eltern geraten, erst einmal ihre Beziehung in Ordnung zu bringen. Sie war der tiefere Grund für die Verzweiflungstat des Kindes.

Die schwarze Wolke, die bald wieder verzieht

Die Anzahl der Selbsttötungen steigt statistisch gesehen mit dem Alter, was in gewisser Weise plausibel ist. Eine Bilanz zu ziehen und zu finden, nun sei es genug, das ist eventuell naheliegend bei einem alten Mann oder einer alten Frau, womöglich krank, einsam, arm.

Bei Jugendlichen, findet Freisleder, gibt es dafür keinen Grund - sie haben das Leben noch vor sich; es gehe darum, ihnen Wege zu zeigen, wie sie sich aus der für sie bedrückenden Situation lösen und befreien können. Deshalb erlebt er es oft, dass sich seine Patienten relativ schnell wieder stabilisieren - und dass sie ihm nach nicht allzu langer Zeit sagen, wie froh sie seien, noch am Leben zu sein.

Nicht zu vernachlässigen ist bei Suiziden Jugendlicher der sogenannte Werther-Effekt nach dem 1774 erschienenen Roman Goethes: Menschen, die ohnehin schon gefährdet sind, neigen dazu, ihre Gedanken in die Tat umzusetzen, wenn sie von Selbsttötungen anderer hören. Dies führte in Wien vor rund 25 Jahren zu einer Vereinbarung zwischen den dort ansässigen Zeitungen und den Verkehrsbetrieben: Die Medien verpflichteten sich, über Suizide in der U-Bahn nicht mehr zu berichten. Dass daraufhin die Fälle signifikant zurückgingen, konnte statistisch sicher nachgewiesen werden. Auch in München gibt es seit langem eine solche Vereinbarung.

Dieses Wissen ist im Übrigen auch der Grund dafür, warum in dieser Geschichte keine Beispiele genannt werden, keine Betroffenen vorkommen: Auch bei vorsichtigster Berichterstattung kann nicht ausgeschlossen werden, dass gefährdete Menschen eine solche Erzählung als Anlass nehmen, selbst Hand an sich zu legen.

Hilfe gibt es immer, sagt Franz Joseph Freisleder - zahlreiche Einrichtungen und Institutionen helfen zu jeder Tages- und Nachtzeit. Auch im Internet gibt es viele Angebote - so etwa das Forum des Kompetenznetzes Depression, in dem Patienten und Betroffene sich untereinander austauschen. Sehr gefährlich findet Freisleder hingegen gewisse "Selbstmord-Foren", in denen es nicht um Auswege, um Hilfe geht, sondern in denen sich die Teilnehmer in ihrem Wunsch, aus dem Leben zu scheiden, anstacheln und aufschaukeln.

Nicht jede Wesensänderung in der Pubertät bietet jedoch Anlass zur Sorge, meint Freisleder: "Das Leben in Frage zu stellen, gehört zum Jungsein." Dunkle Gedanken, ein Hang zur Morbidität, traurige Musik und sentimentale Gedichte - das ist alles noch kein Grund, einen jungen Menschen als suizidgefährdet zu betrachten.

Es gibt allerdings deutliche Warnsignale, bei denen Eltern, Verwandte, Lehrer, Freunde aufhorchen sollten. Doch in vielen Fällen, so Freisleder, sei die schwarze Wolke bald wieder vorübergezogen: "Bei Jugendlichen gilt oft: Was sehr dramatisch aussieht, stabilisiert sich sehr schnell wieder."

Dann fährt die Lokomotive nicht mehr sinnlos im Kreis, ohne Start, ohne Ziel, ohne Ausweg. Sondern dorthin, wo sie hin soll: hinein ins Leben.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: