Selbsthilfegruppe:Wenn Kinder den Kontakt zu den Eltern abbrechen

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Dass Kinder flügge werden, ist normal. Aber wenn Eltern ganz verlassen werden, wie auf dem Symbolfoto dargestellt, kann das sehr schmerzhaft sein. (Foto: Manja Elsässer/Imago)

Viele verlassene Mütter und Väter schämen sich, über ihr Leid zu sprechen. In München finden sie nun in einer neuen Selbsthilfegruppe Unterstützung.

Von Manuela Warkocz

Es tat so weh, als ihre drei erwachsenen Söhne nichts mehr mit ihr zu tun haben wollten. Sie lehnten jedes Gespräch ab, wiesen Geschenke zurück, schrieben ihr auf dem Handy, dass ihre Mutter für sie nicht mehr existiere. Der Liebesentzug ihrer Kinder war das Schlimmste für Inge Knobloch, nachdem sie sich von ihrem Mann getrennt hatte und ausgezogen war. "Ich lag nachts wach und bin schier erstickt an Schmerz und Trauer."

Sie wollte Rat suchen bei einer Selbsthilfegruppe für verlassene Eltern. Und stellte fest: In München gab es keine. Die nächste war erst im Raum Nürnberg. Also gründete die 55-Jährige im November 2017 die "Selbsthilfegruppe Verlassene Eltern München". Die Initiatorin erfüllt damit offenkundig ein großes Bedürfnis. Kamen zum ersten Treffen nur drei Betroffene, waren es beim zweiten schon zehn. Für die nächsten Zusammenkünfte haben sich bereits mehr als 20 verlassene Mütter und Väter angesagt.

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Dass Kinder sich von ihren Eltern radikal abwenden und jeden Kontakt Jahre, ja Jahrzehnte ablehnen, ist nicht so selten. Es existieren dazu keine Statistiken. Und eine hohe Dunkelziffer ist zu vermuten. "Viele schämen sich, im Bekanntenkreis offen über ihr Leid zu sprechen", hat Knobloch erfahren. Sie befürchteten, dass die meisten denken: "Naja, irgendwie werden die Eltern schon selber schuld sein."

Was die Gruppengründerin bei den ersten Treffen herausgehört hat: Viele Betroffene hatten bis zum Bruch mit ihren Kindern nach eigenem Dafürhalten eine besonders enge, herzliche Beziehung, haben sich rührend um sie gekümmert. "Mir ging's ja auch so. Für mich war das mit meinen Söhnen immer ein Super-Verhältnis", blickt Inge Knobloch zurück.

Dass die Trennung von ihrem Mann die Kinder so loyal an deren Vater gebunden hat, dass sie ihr alle Schuld aufbürdeten und sie als Mutter verstießen, ging ihr einfach nicht in den Kopf und machte ihr das Herz schwer. Die beruflich erfolgreiche Frau fühlte sich hilflos. "Ich hab' mein Leben immer im Griff gehabt, konnte alle meine Pläne umsetzen. Und dann knallen mir die Kinder immer wieder die Tür vor der Nase zu." Feiertage, Geburtstage waren besonders schwierig auszuhalten.

Hier soll die Gruppe Halt geben, indem man diese Tage gemeinsam gestaltet. Zusammengefunden haben sich bei den "Verlassenen Eltern" Männer und Frauen zwischen 40 und 85 Jahren. Teils haben sie seit zehn bis 15 Jahren kein Lebenszeichen von ihren erwachsenen Kindern. Knobloch, die ausgebildete psychologische Beraterin, Mediatorin und Personal Coach ist, moderiert die Treffen. "Ich versuche, dem Ganzen einen Rahmen zu geben, lasse aber jedem viel Zeit."

Schon bei der Vorstellungsrunde erzählten viele gleich in großer Offenheit ihre ganze Leidensgeschichte, was für die anderen sehr bewegend sei. Es kämen auch Tränen. Dass man mit seinem Schicksal nicht allein dastehe, sei erleichternd. "Denn auch wenn du einen guten Freundeskreis hast, kann das keiner verstehen, der das nicht selbst erlebt hat", so die Erfahrung.

In der Gruppe stehen die Gefühle der Eltern im Mittelpunkt

Dass man dem eigenen Kind irgendwo auflauert, nur um es aus einem versteckten Winkel mal wieder zu sehen; der Wunsch, die eigenen Enkel kennenzulernen; immer wieder Hoffen - "Beim nächsten Geburtstag oder zumindest an Weihnachten wird sie sich melden" - und wieder abgrundtiefe Enttäuschung; die bange Frage, ob es wenigstens eine Versöhnung am Sterbebett geben wird; und wie soll das Testament verfasst werden?

Ganz gleich, was zum Abbruch der Beziehung geführt hat - etwa ein eigentlich belangloser Streit, ein neuer Partner des Kindes oder Übergriffigkeit der Eltern: In der Selbsthilfegruppe soll das Befinden der Eltern im Mittelpunkt stehen. Deren widerstreitende Gefühle wie Scham, Schuld, Wut, Hilflosigkeit und Trauer werden thematisiert. "Diese Punkte können wir bearbeiten, unsere Situation vielleicht akzeptieren lernen und weniger zurück schauen, besser zukunftsorientiert sein", so Knobloch. "Erwachsene Kinder kann ich nicht zurückholen, wenn sie nicht wollen", sagt sie.

Die Selbsthilfegruppe, die an das Münchner Selbsthilfezentrum angeschlossen ist, wurde inzwischen wegen ihrer Größe geteilt. In den Gruppen haben sich bereits erste Kontakte und Bekanntschaften entwickelt. Der Erfahrungsaustausch helfe, neue, positive Erlebnisse zu schaffen und das Schicksal besser in den Griff zu bekommen, stellt Knobloch fest. Statt nur zu bedauern, was fehle, könnten die Beteiligten eher sehen, wofür es sich lohne, dankbar zu sein. Dazu zählten auch Geschwisterkinder, die der Familie verbunden geblieben sind. Inge Knobloch selbst sieht inzwischen eine verhaltene Annäherung von ihren Kindern. Das Begräbnis von Knoblochs Mutter hat sie wieder zaghaft miteinander ins Gespräch gebracht.

Kontakt über Selbsthilfezentrum München, Telefon 089/53 29 56 - 0, Facebook: Verlassene Eltern - München oder per mail verlasseneeltern.muenchen@web.de

© SZ vom 23.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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