Flüchtlingshelfer:"So krass, das musste ich aufschreiben"

Flüchtlingshelfer: Die Blicke der Flüchtlinge bleiben im Gedächtnis, sagt Karim Hamed. Und um ihre Worte nicht zu vergessen, tippt er sie in sein Handy.

Die Blicke der Flüchtlinge bleiben im Gedächtnis, sagt Karim Hamed. Und um ihre Worte nicht zu vergessen, tippt er sie in sein Handy.

(Foto: Catherina Hess)

Karim Hamed hilft seit September in Aufnahmelagern und Erstunterkünften für Flüchtlinge als Übersetzer. In seinem Blog dokumentiert er viel Trauer - aber auch Hoffnung.

Von Martina Scherf

Es ist mehr als ein Tagebuch: "Tag 17, Zentraler Busbahnhof: Ich fuhr gegen 21 Uhr am ZOB vorbei und entschied spontan, mir die neuen Container der ZOB-Angels anzuschauen. Doch es kam, wie es kommen sollte: Ich blieb bis 1 Uhr morgens." Seit drei Monaten verbringt Karim Hamed einen Großteil seiner Freizeit als Übersetzer in Münchens Aufnahmelagern und Notunterkünften. Weil er arabisch spricht, ist er der Erste, der die Geschichten der Gestrandeten erfährt. Sie lassen ihn nicht mehr los, und um sie mitzuteilen, fängt er an, sie aufzuschreiben. Seither verfolgen Tausende Menschen seinen Blog blicktausch.com. Es ist ein Stück Oral History aus einer Welt in Aufruhr. Sieben Begegnungen mit Flüchtlingen hat Karim Hamed an diesem einen Abend im November notiert. Momente, in denen das Drama Gesicht und Stimme erhält.

Menschen, denen Karim Hamed begegnete

Begegnung 1: "Eine syrische Frau sucht nach einer Tasche. Sie war nicht verzweifelt, aber es schien sie zu bedrücken . . ." In der Tasche sind die Heiratsurkunde, der positive Schwangerschaftstest und ein Teddy, den ihr jemand als Andenken mit auf die Reise gegeben hatte, erfährt Hamed. Als eine Helferin die Tasche im Chaos findet, ist die Freude groß.

Begegnung 2: Hamed macht einen Syrer glücklich, indem er Schuhe in Größe 47 aus der Kleidersammlung für ihn findet. Er ist mit seiner Mutter gekommen, erfährt er nebenbei, die beiden wollen zum Vater nach Dänemark. Der Sohn mit den großen Füßen, so wird es Hamed erzählt, hat selbst das Boot übers Mittelmeer gesteuert: "Ich vertraue da niemandem." Drei Schwimmwesten hat er seiner Mutter gekauft.

Begegnung 3: "In der Kleiderausgabe kommt ein deutscher Obdachloser und fragt nach einer Decke. Er riecht nach Alkohol. Eine Helferin fragt: Was machen wir? Geben wir ihm auch eine? Er ist kein Flüchtling, aber es ist kalt. Ohne lange zu zögern, entscheiden wir uns, ihm eine Decke zu geben. Der Mann nimmt sie dankend an und humpelt davon."

"Die Geschichten der Menschen waren so krass, das musste ich aufschreiben"

Karim Hamed lebt als IT-Berater mit seiner Familie in München. Als er Anfang September den Aufruf einer Münchner Moschee zur Kleiderspende las, ging er hin und wollte eigentlich nur ein paar Sachen abgeben. Da fragte ihn jemand: "Könntest du nicht für die Flüchtlinge übersetzen?", und so fuhr er noch am selben Tag ins Versorgungszentrum beim Bahnhof. "Die Geschichten der Menschen, mit denen ich dort sprach, waren so krass, das musste ich aufschreiben", erzählt er, "zuerst nur für die Helfer, denn die leisten so viel, obwohl sie von den Menschen gar nichts wissen." Bald hatte er auf der Facebook-Seite des Helferkreises 13 000 Likes pro Woche und dachte: Eigentlich muss das jeder lesen können. Er richtete seinen Blog ein - und spürte, dass er auch schrieb, um die eigenen Eindrücke zu verarbeiten. Seither folgt alle paar Tage ein Eintrag.

Hamed nimmt seine kleine Tochter auf den Arm. "Die Geschichten der Kinder gehen einem am meisten unter die Haut. Sie ertragen das alles mit so einer Kraft, unglaublich", sagt der 36-Jährige. Er weiß, was es heißt, in einem neuen Land anzufangen. Seine Mutter ist Deutsche, sein Vater Tunesier. Als er neun war, zogen seine Eltern von Berlin in die Heimat des Vaters. Der kleine Karim muss arabisch schreiben lernen und sich an die strengen Schulsitten gewöhnen. "Das war nicht leicht", sagt er, "alles war fremd." Mit 17 kommt er zurück und muss sich ein zweites Mal anpassen. "Die Lehrer im Gymnasium haben mir jedes falsche Komma angestrichen, sogar in Mathematik." Er beißt sich durch und schafft das Abitur.

In Frankreich kämpft er mit viel Rassismus

Dann kommt wieder ein Umzug, diesmal freiwillig: Er geht zum Studium nach Frankreich und lernt dort seine Frau kennen. Aber die Fremdenfeindlichkeit vieler Franzosen macht ihm zu schaffen. "Sie haben sich nie mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt. Es herrscht ein unterschwelliger Rassismus", sagt er, "aber der ist allgegenwärtig." Ein Arbeitskollege kürzt seinen Namen ab, "damit die Kunden nicht merken, dass du Araber bist". Da reicht es ihm. Das junge Paar zieht schließlich nach München, wo Hameds Frau ihr Studium fortsetzen kann, und findet: "Hier sind die Leute wirklich freundlich und entspannt."

Hamed ist ein schlanker, ernster Mann, er wählt seine Worte mit Bedacht. "Ich hoffe, dass das so bleibt. Die feigen Anschläge von Paris werden es noch schwerer machen", sagt er. Er selbst wird auf jeden Fall weiter versuchen, Brücken zu bauen und Verständnis zu wecken. Auf beiden Seiten. Er erklärt einem Iraker, dass man in Deutschland leise sprechen und sich an die Regeln halten muss, "dann wird dir geholfen". Und er bringt einem deutschen Paar aus Cottbus am Busbahnhof einen Kindersitz, weil sie sonst nicht einsteigen dürfen - obwohl er nur grimmige Blicke dafür erntet. Er tröstet eine Frau, die ihre gebrechliche Mutter fast auf dem Rücken nach Deutschland geschleppt hat und sagt: "Wenn Männer ihre Kinder in ein Schlauchboot setzen und aufs Meer fahren, wie groß muss da die Not sein?" Die Blicke der Menschen bleiben im Gedächtnis, sagt er. Und um ihre Worte nicht zu vergessen, tippt er sie noch am selben Abend in sein Handy.

"Der Tod ist zwischen uns eingezogen"

"Tag 16, Notunterkunft Dornach. Eine diabeteskranke Frau aus Syrien ist angekommen, sie möchte ihren Sohn anrufen, der seit acht Monaten in Deutschland ist. Sie hat ihn aus Syrien fortgeschickt, als der IS kam. "Der Tod ist zwischen uns eingezogen", sagt die Frau, "wenn man es nicht mit eigenen Augen sieht, kann man das nicht glauben." Hamed erreicht den jungen Mann, erklärt ihm, wie er nach Dornach kommt und wenig später liegen sich Mutter und Sohn weinend in den Armen. "Er küsst ihre Hände. Sie küsst seine Stirn. Dann legt er seinen Kopf auf ihre Brust. Nach einer Weile hilft er ihr, sich hinzusetzen. Er kniet sich vor ihr auf den Boden und legt seinen Kopf auf ihren Schoß. Sie flüstert ihm Worte zu und weint weiter. Ich stehe in der Tür, beobachte die Szene und verkneife mir die Tränen. Es ist ein traurig schönes Bild."

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