Hilfe bei Messie-Syndrom:Gefangen in der Sammelwut

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Ursula Poeverlein in ihrer Wohnung, die sie gerne öfter aufräumen würde - was sie aber nicht schafft. (Foto: Florian Peljak)
  • Laut Schätzungen von Selbsthilfegruppen gibt es in Deutschland rund zwei Millionen Menschen, die unter dem "Messie-Syndrom" leiden.
  • Menschen mit dieser "Desorganisationsproblematik" können ihren Alltag oft nicht organisieren und strukturieren.
  • In München hilft das H-Team Betroffenen durch eine achtwöchige Sofortmaßnahme, durch die verhindert werden soll, dass Messies ihre Wohnung verlieren und obdachlos werden.

Von Ann-Kathrin Hipp

Der Boden im Schlafzimmer ist mit Altpapier bedeckt, vor dem Schrank stapeln sich Blusen, Pullover und Hosen. Schuhe machen den Flur zu einem kleinen Labyrinth, und in der Küche liegt so viel Krimskrams, dass Esstisch und Arbeitsfläche kaum zu sehen sind. Kaffeefilter türmen sich neben Katzenfutter, Plastikbecher neben alter Post. "Das steht alles hier rum, weil die Schränke voll sind", erklärt Ursula Poeverlein. Sie lacht etwas verlegen. Nach einem kurzen Moment Stille sagt sie: "Manchmal kann ich darüber lachen, manchmal werde ich aber einfach nur sauer."

Die 50-Jährige hat Schwierigkeiten, ihren Alltag zu organisieren. Fachleute nennen das "Desorganisationsproblematik", umgangssprachlich sagt man "Messie-Syndrom". Rund zwei Millionen Betroffene gibt es laut Schätzungen von Selbsthilfegruppen in Deutschland, die Ausprägungen sind stets unterschiedlich. Was die eifrigen Sammler gemeinsam haben, ist eine komplizierte Denkweise, ein gewisses Chaos im Kopf.

Prioritäten zu setzen, fällt unglaublich schwer

Abspülen, Aufräumen oder Wäsche waschen werden zu unüberwindbaren Hürden. Entscheidungen zu treffen oder Prioritäten zu setzen, fällt unglaublich schwer. "Ich stelle mir Fragen wie: Kauf' ich den roten Kuli oder den blauen, und werfe ich das eine weg oder das andere?", erzählt Ursula Poeverlein. Um eine falsche Entscheidung zu umgehen, kaufe sie dann eben beide Kugelschreiber und werfe nichts weg. "Das ist die Angst vor Fehlern." Jede Entscheidung: ein kleines Risiko.

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Sie horten und sammeln, umgeben sich mit Dingen, die andere wegwerfen - solange, bis ihnen alles über den Kopf wächst. Messies verbringen ein Leben im Durcheinander, das ihnen Angst macht und sie isoliert. Ein Gespräch über inneres und äußeres Chaos.

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So sammelt Poeverlein in ihrer knapp 90 Quadratmeter großen Wohnung irgendwie alles: den Krimi, den sie irgendwann lesen will, den Teddy, den sie von ihrer Großmutter bekommen hat, und akkurat gestapelte Joghurtbecher, die zu schade seien, um sie wegzuwerfen. Dazu ungezählte Bücher, Gesellschaftsspiele, CDs, Schuhe und Kuscheltiere. Nur einen Bruchteil der Sachen benutzt Poeverlein tatsächlich, vieles hebt sie für den Tag X auf, an dem sie die Dinge gebrauchen könnte.

"Vielleicht habe ich das Sammeln von meinen Großeltern übernommen"

Die 50-Jährige weiß, dass Tag X meist nicht kommt. "Vielleicht habe ich das Sammeln von meinen Großeltern übernommen", erzählt sie. Aufgewachsen bei Oma und Opa, erlebte sie Menschen der Kriegsgeneration, die Dinge nicht leichtfertig wegwarfen und den Wert einer Sache selbst dann zu schätzen wussten, wenn sie kaputt war.

Dass sie zu viele Dinge anhäuft, erkannte Poeverlein vor einigen Jahren. Damals, erinnert sie sich, glichen ihre Zimmer eher Lagerräumen als einer Wohnung. Sie selbst ließ niemanden mehr hinein. "Ich wusste, dass man sich schämen muss", sagt sie. "Und ich schämte mich." Als sie vom H-Team erfuhr, meldete sie sich. Das H steht für Hilfe.

Seit 1990 unterstützt der gemeinnützige Verein Menschen mit Sammel- oder Messie-Syndrom. Bundesweit sammelten die Helfer Spenden und finanzierten so das erste Hilfe-Telefon, das schnell und anonym Rat bietet. In München hilft das H-Team Betroffenen durch eine ambulante Wohnungshilfe. Nimmt das Chaos überhand, soll durch eine achtwöchige Sofortmaßnahme verhindert werden, dass Messies ihre Wohnung verlieren und obdachlos werden. Danach folgt in der Regel ein zwölfmonatiges ambulantes Wohntraining.

Strategien für den Umgang mit dem Chaos

"Die Kosten für die Hilfsprogramme übernimmt in der Regel das Sozialamt", erläutert Wedigo von Wedel, Vorstandsmitglied des H-Teams. Mitarbeiter bringen gemeinsam mit Betroffenen Ordnung und Struktur in die Wohnung, entwickeln Strategien für den Umgang mit dem Chaos. Alle Kisten, Kartons und Sammelstücke werden nach und nach durchgeschaut, Gegenstände in drei Kategorien aufgeteilt: kann weg, unsicher und muss definitiv bleiben.

"Es braucht etwas Feingefühl, Verständnis für scheinbar unwichtige Dinge, die den Sammlern am Herzen liegen", sagt von Wedel. "Manchmal lässt sich über Sachen auch diskutieren", sagt auch Poeverlein, die das Team als ihre "Stimme des Gewissens" beschreibt. "Man selbst findet ja doch immer wieder Ausreden." Mal ist es die Erinnerung, mal die Farbe, die ihr gut gefällt. Da sei es gut, jemanden von außen zur Seite zu haben.

Äußere Unordnung als Spiegel der Seele

Nach Ablauf des Sofort-Programms geht es für Betroffene dann vor allem darum, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. "Sachen wegzuwerfen ist das eine, aber die Seele aufzuräumen ist noch mal was ganz anderes", sagt von Wedel. Dem zwanghaften Sammeln liegen meist psychische Störungen zugrunde, verursacht durch Schicksalsschläge, frühkindliche Traumata oder Krankheiten. Die äußere Unordnung spiegelt das Chaos im Inneren wieder.

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Ursula Poeverlein zum Beispiel leidet unter einer Depression, durch familiäre und berufliche Probleme war sie überfordert. "Ich habe nicht mehr funktioniert", sagt die ausgebildete Heilpraktikerin, die wegen ihrer Krankheit derzeit nicht arbeitet. "Ich hatte das Bedürfnis, eine Leere zu füllen." Doch egal, wie viele Bücher, Spiele oder Musiknoten sie sammelte, egal wie viele Dinge sie aufhob, Poeverlein konnte die Leere nicht stopfen.

Noch heute hat sie ein Mobile aus Kindertagen

"Vielleicht ist es das Kind in mir", sagt Poeverlein. Das jedenfalls bekommt sie immer wieder von Experten zu hören. Als sie als Siebenjährige an Leukämie erkrankte, holten die Großeltern das Mädchen zu sich. Die Mutter sei nicht in der Lage gewesen, sich um das kranke Kind zu kümmern - das jedenfalls sagten Oma und Opa. Noch heute hängen über dem Bett der 50-Jährigen eine Lampe in Sonnenform und ein Mobile mit Biene, Schmetterling und Käfer.

"Wenn ich liege, kann ich mir das von unten anschauen", erzählt Poeverlein und wirkt zufrieden. Sie hat viele Plüschtiere, mag Spiele und liest gerne Kinderbücher. Ihre Heldin ist Pippi Langstrumpf von Astrid Lindgren. "Die ganze Welt ist voll von Sachen, und es ist wirklich nötig, dass jemand sie findet", erzählt Pippi in einer ihrer Geschichten. Beide sammeln Dinge - auf ihre Art.

Das Aufräumen ist eine Herausforderung

Seit dem vergangenen Jahr besucht das H-Team Poeverlein nicht mehr wöchentlich, was man der Wohnung allerdings auch ansieht. Es sei schon wieder grenzwertig, erzählt Poeverlein. Sie mache Unordnung, die Katzen machten Dreck. "Ich hatte mir mehr vorgenommen, aber es hat nicht ganz geklappt", sagt sie. Die 50-Jährige will versuchen, ihr Problem in den Griff zu bekommen. Das Gästezimmer, das voller Kisten steht, würde sie gerne richtig nutzen. "Aber das Aufräumen ist immer die Überwindung einer Schwelle." Eine Herausforderung. "Viele verstehen das nicht. Sie sagen, dass man zu schlampig ist, zu faul zum Aufräumen, oder einfach zu viel Kram hat."

In Deutschland ist das Messie-Syndrom - im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten - noch nicht als Krankheitsbild anerkannt. Vielleicht ein Grund dafür, warum das Problem häufig unterschätzt wird. Und vielleicht ein Grund, warum es Ursula Poeverlein schwer fällt, sich selbst als krank zu bezeichnen. "Wie alle psychischen Leiden ist es nun mal was anderes als Husten, Schnupfen oder Masern", sagt sie. Dabei weiß sie eigentlich, dass es gar nicht so anders ist.

© SZ vom 29.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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