Literatur:Flucht ins Unbekannte

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Neue Heimat für viele Deutsche in Südamerika: Ein deutscher Frachter im Hafen von Buenos Aires im Jahr 1936. (Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Henriette Kaiser hält in "Goethe in Buenos Aires" die Geschichten von jüdischen Deutschen fest, die zur Zeit des Nationalsozialismus nach Argentinien geflüchtet waren.

Von Antje Weber, München

Der erste Eindruck von Buenos Aires? "Vor allen Dingen Ärger", sagt Liesel Bein und lacht. Ihre Familie, 1939 auf einer langen Schiffsreise vor den Nazis nach Argentinien geflohen, bekam im Hafen gleich Probleme am Zoll. Schnell setzten sich aber doch auch ein paar schönere Bilder bei dem Mädchen fest, der Geruch von Jasmin zum Beispiel, die Eisverkäufer auf den Straßen bis in die Nacht hinein. Es werden in den Jahrzehnten danach noch sehr viel mehr an unterschiedlichsten Eindrücken dazukommen: Die jüdische Familie aus Mönchengladbach wird nie mehr nach Deutschland zurückkehren.

Im Jahr 2014 hat Liesel Bein, 1926 geboren und inzwischen verstorben, der Münchner Autorin und Filmemacherin Henriette Kaiser ihre Lebensgeschichte erzählt. Sie war eine von mehreren in Argentinien lebenden jüdischen Deutschen, die Kaiser damals interviewte. Ergänzt um Gespräche aus dem Jahr 2020, hat Kaiser sie nun unter dem Titel "Goethe in Buenos Aires" als Buch herausgebracht. Es sind Einblicke in eine Lebenswelt, von der man nicht viel weiß. Denn wie Kaiser im Vorwort schreibt, ist wenig bekannt, dass Argentinien im Zweiten Weltkrieg viel länger die Grenzen für jüdische Flüchtlinge öffnete als zum Beispiel die USA; es waren - je nach Schätzung - wohl 45 000 deutschsprachige Juden, die sich dort ein neues Leben aufbauten.

In Städten wie Buenos Aires trafen Nazis und Juden pikanterweise immer wieder aufeinander

Präsenter in der öffentlichen Wahrnehmung ist, dass nach dem Krieg auch etliche Nazis wie Adolf Eichmann, als Leiter des Reichssicherheitshauptamtes verantwortlich für die Verfolgung und Ermordung von Millionen von Juden, in südamerikanischen Ländern wie Argentinien, Brasilien und Chile untertauchten. In Städten wie Buenos Aires trafen Nazis und Juden pikanterweise immer wieder aufeinander, wie auch Kaisers Buch thematisiert - auch wenn etwa die Kinder in unterschiedlichen Schulen voneinander getrennt unterrichtet wurden.

Ab und an trafen Juden und Nazis oder deren Kinder in Buenos Aires jedoch durchaus aufeinander - und verliebten sich sogar ineinander, wie die letzte Geschichte veranschaulicht. Renate Moszkowicz erzählt darin davon, wie sie als Tochter eines Nazis in Buenos Aires einige Jahre nach dem Krieg den Auschwitz-Überlebenden Imo Moszkowicz kennenlernte - eines der Kinder aus ihrer langen, glücklichen Ehe ist übrigens der Münchner Filmproduzent Martin Moszkowicz.

Als Film kann man sich auch Kaisers Buch gut vorstellen; ursprünglich war es wohl als solcher geplant. Gerne würde man dem Tonfall der alten Damen - die Interviewten sind überwiegend Frauen - lauschen, den Blick mit ihnen über das Häusermeer der Stadt schweifen lassen. Doch es ist verdienstvoll, dass es nun zumindest dieses Buch gibt, dessen Interviews von Kaiser, offensichtlich der Zeitzeugenbefragung einer "Oral History" verpflichtet, wenig bearbeitet wurden. Aufgelockert wird die Lektüre durch Fotos und Zwischentexte zu eigenen Erlebnissen und Recherchen in Buenos Aires, in denen es um Tango ebenso geht wie um Kuckucksuhren. Diskret bringt die Autorin als Tochter eines der SZ einst sehr verbundenen Musikkritikers auch die eigene Familiengeschichte ein, die ebenfalls Verbindungen nach Buenos Aires aufweist: Ein Urgroßonkel wanderte bereits Ende des 19. Jahrhunderts nach Argentinien aus und gründete eine deutsch-argentinische Handelszeitung.

Diskret bringt die Autorin Henriette Kaiser auch ihre eigene Familiengeschichte ein. (Foto: Manuel Meyer)

Viel wichtiger ist es Henriette Kaiser jedoch, ihren Gesprächspartnerinnen eine Stimme zu geben und anhand ihrer unterschiedlichen und doch in vielem ähnlichen Lebensgeschichten zu zeigen, wie sehr jede Flucht eine Biografie prägt. Die Frauen mussten nicht nur teils ihre Namen ändern, von Marion zu María etwa, damit sie im Spanischen verständlicher klangen - und gaben allein damit bereits einen Teil ihrer Identität ab. Sie mussten sich überhaupt in einem Leben zwischen den Kulturen einrichten und einigem entsagen, zum Beispiel beruflichen Träumen: Aus Geldnot mussten die meisten von ihnen früh arbeiten, meist als Sekretärinnen mit Fremdsprachenkenntnissen.

Deutlich wird in diesen Gesprächen aber auch, welche Eigenschaften helfen, schwierige Zeiten zu überstehen. Marion Weiss etwa erzählt von ihrer Mutter, die im Gegensatz zum Vater nicht an der Flucht zerbrochen sei: Sie hatte "dieses österreichische Lächeln. Egal was passiert ist, sie hat gelächelt." Heute würde man das Resilienz nennen, positives Denken. Dazu kommt bei den Frauen ein tiefes Verständnis für Menschen, die in ähnliche Lebenslagen geraten. Wenn sie von Geflüchteten hören, die nach Europa kommen, ist ihr erster Impuls: "Helfen. Natürlich helfen. Selbstverständlich."

Henriette Kaiser: Goethe in Buenos Aires, Faber & Faber 2022, 192 Seiten, 22 Euro.

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