"Glauben Sie mir", warnt der Schriftsteller Heinrich Mann im Sommer 1936 in Paris grimmig, "diejenigen der internationalen Sportler, die nach Berlin gehen, werden dort nichts anderes sein als Gladiatoren, Gefangene und Spaßmacher eines Diktators, der sich bereits als Herr dieser Welt fühlt." Diese Warnung, sie war wohl auch an die jüdische Fechterin Helene Mayer gerichtet.
Als "blonde He" war die 17-Jährige in Deutschland über Nacht berühmt geworden, als sie 1928 bei den Olympischen Spielen in Amsterdam triumphierte. Mit ihren Markenzeichen, den geflochtenen blonden Zöpfen und dem weißen Band um die Stirn, wird sie schnell zum Idol in den ausgehenden Goldenen Zwanzigern. In deutschen Wohnzimmern stehen Porzellanfiguren der jungen Frau, die mit den Bewegungen einer Tänzerin das Publikum fesselt. Sie gilt noch heute als die beste Fechterin des vergangenen Jahrhunderts. Im Norden Münchens gibt es seit 1972 einen Helene-Mayer-Ring. Er begrenzt in östlicher Richtung das zu Beginn der 1970er Jahre errichtete olympische Dorf. Im Mills College in Oakland, Kalifornien, ist ein Stipendium nach ihr benannt. Doch die Erinnerung an sie verblasst. Vielleicht auch, weil sie eine so komplizierte Rolle spielte bei den Olympischen Spielen 1936. Hitlers Spielen.
Mayers Teilnahme wurde weltweit zum Politikum, eine internationale Protestbewegung hatte sich formiert. Ihre Haltung: Sollte das Regime den jüdischen Sportlern aus Deutschland die Teilnahme verwehren, müsse die internationale Gemeinschaft die Spiele in Berlin boykottieren. Das wäre ein schwerer Schlag für die Pläne Hitlers gewesen, der Welt ein freundliches Gesicht Deutschlands zu präsentieren, während er den Vierjahresplan vorantrieb, der Deutschland auf den Vernichtungskrieg vorbereiten sollte.
Natürlich würde man jüdische Sportler in die deutsche Mannschaft aufnehmen, verkündete Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten - sollten sie in "olympiareifer Verfassung" sein. Doch wer diese Voraussetzung erfüllte, darüber entschied allein von Tschammer und Osten. Die Wahl fiel auf Helene Mayer, die als einzige deutsche Sportlerin mit jüdischen Wurzeln teilnehmen sollte. Ein sportpolitisches Feigenblatt. Welche Ironie: Die Nazis, die Juden aus den Sportvereinen ausschlossen, baten Helene Mayer nun, für Deutschland an Olympia teilzunehmen - weil sie Jüdin war.
Die Hoffnung der NS-Führung: Durch die Berufung einer jüdischen Athletin würde der Boykott in sich zusammenfallen. Der Präsident des Amerikanischen Olympischen Komitees, Avery Brundage, der als Sympathisant Hitler-Deutschlands galt und 1972 - mittlerweile IOC-Chef - nach dem Olympia-Attentat in München die Worte "The Games must go on" sprach - würde sich mit der symbolischen Nominierung zufriedenstellen lassen. Nur die UdSSR boykottierte letztlich die Berliner Spiele.
Mayer selbst hatte die Machtübernahme der Nationalsozialisten aus der Ferne erlebt und mit einem deutschen Stipendium in Kalifornien studiert, das ihr wegen ihrer Herkunft - ihr Vater war Jude - wieder entzogen worden war. Es gibt wenig Quellen über den inneren Kampf, den Mayer damals wohl ausfechten musste. Sicher ist: Sie sehnte sich zurück nach Deutschland, wo sie in Offenbach am Main geboren war: "Das Heimweh blieb immer, unabhängig von der politischen Sache", sagte ihre Schwägerin Erika Mayer im Dokumentarfilm What if? Die Helene-Mayer-Story: "Sie war unpolitisch."
Mayer knüpfte Forderungen an eine Teilnahme, sie wollte ihre Rechte als Reichsbürgerin garantiert bekommen. Vielleicht träumte sie davon, als Fecht-Liebling zurückzukehren in ihre Heimat, wo einst die Porzellanfiguren nach ihrem Ebenbild geformt worden waren. "Ich denke, sie konnte nicht loslassen von diesem Bild von ihr selbst", glaubt Milly Mogulof, Autorin der Mayer-Biografie "Hitlers jüdische Olympionikin". Konnte sie die Nominierung überhaupt ablehnen? Schließlich war ihre Mutter noch in Deutschland und möglicherweise Repressionen ausgesetzt.
Andere appellierten an sie, ein Zeichen zu setzen und die Nominierung auszuschlagen. Nicht nur Heinrich Mann, sondern auch sein in die USA emigrierter Bruder Thomas warnte Mayer in einer Radiorede davor, an den Spielen teilzunehmen. Sie sagte trotzdem zu. "Sie litt unter der Zerrissenheit, sie litt unter den Erwartungen, die beide Seiten auf sie setzten", glaubt Sporthistoriker Hans Joachim Teichler, "und ich kann mir vorstellen, dass in dieser Situation die Sportlerin in ihr zum Durchbruch kam."
Mayer reist im Sommer 1936 nach Berlin. Zur Eröffnung der Spiele steigen 20 000 weiße Friedenstauben in den Himmel. Sie gewinnt Silber. Auf dem Siegerpodest hebt sie den Arm zum Hitlergruß. Es sind Bilder, die um die Welt gehen und die Welt für einen Moment täuschen sollen.
Das NS-Regime landete in Berlin einen PR-Coup. Die Spiele seien "ein Fest der Freude und des Friedens", wie Propaganda-Chef Joseph Goebbels verkündete. Auch Helene Mayer kehrt begeistert in die USA zurück, sie schwärmt im Rundfunk über die Spiele in ihrer Heimat und schimpft auf Kritiker: "Diese Schwätzer, die sich immer noch nicht beruhigen können, daß die Olympiade in Berlin der Höhepunkt aller Olympiaden war", schreibt sie in einem Brief in die Heimat. Und doch ahnte sie, dass ihre Heimat, die sie so liebt, sie verstoßen hat. "Ob wir uns wohl in der Zukunft wiedersehen werden? Ich weiß nicht. Ich weiß nur, daß ich wieder nach Deutschland kommen möchte, aber dort ist sicher kein Platz für mich... ich bin eben eins der Menschenkinder, die von einem harten Schicksal betroffen wurden", schreibt Mayer im selben Brief.
Und doch tritt sie 1937 noch einmal an für Deutschland, in Paris wird sie erneut Weltmeisterin. Doch ihr Erfolg wird in der Heimat ignoriert. Nun, da die Spiele vorbei sind, braucht Hitlers Regime keine Erfolgsmeldungen jüdischer Sportler mehr. Mayer muss erkennen: Ihre Heimat kann sie sich nicht mit dem Florett zurückerobern.
Helene Mayer kehrt zurück in die USA, unterrichtet Deutsch und Fechten am Mills College in Kalifornien, geplagt von starkem Heimweh. In ihrem Sport ist sie immer noch nicht zu schlagen, sie gewinnt acht US-Meisterschaften, die letzte 1946. Erst 1952 kehrt sie nach Deutschland zurück, heiratet einen Münchner Baron und stirbt kurze Zeit später mit 42 Jahren an Krebs. Begraben liegt sie, von der Öffentlichkeit fast vergessen, auf dem Münchner Waldfriedhof.